Die Uhr der Skythen (German Edition)
Zeit arbeiten, der Radfahrer steht an der Ampel, Hinrich lächelt eingefroren. Er müßte sie genau fotografieren, Merreth besitzt so eine moderne Kamera. Die Zeit für eine genau bemessene Frist anhalten, mit einem Winkelmesser den Stand der Ringe zueinander vermessen, dann eine komplette Umdrehung hochrechnen. Aber wozu? Er gähnt. Ohne weiteres könnte er sich jetzt hinten in den Laster legen, der stinkt zwar erbärmlich nach Fisch, aber sie haben ein paar Decken mitgenommen, in die würde er sich einwickeln und so lange schlafen, wie es bräuchte, bis er wieder erwacht. Dann wäre es zwar noch immer zwanzig nach elf, aber er wäre frisch und munter, und die vermaledeite Uhr wäre ein Stück weiter abgelaufen.
So könnte er es machen, demnächst, Stück für Stück die Zauberzeit verrinnen lassen, für eine Mittagspause, einen ausführlichen Spaziergang über den Deich oder eine ungestörte Stunde Barockmusik. Irgendwann wird die Uhr dann abgelaufen sein, der Zauber vorbei. Dann kann er sie in der hintersten Ecke seines Gartens vergraben oder sie von der Fähre nach Borkum aus im Dukegat versenken. So wird er es machen, denkt er, schließt die Uhr und zeigt mit der Hand auf die rechte Fahrspur.
»Vergiß mich da nicht«, sagt Hinrich lachend, zieht den Wagen nach einem Blick in den Rückspiegel nach rechts und fährt unter der Brücke am Hasetorbahnhof durch.
»Was?« fragt Fokko und steckt die Uhr zum Schlüsselbund in die Tasche des Parkas.
»Wenn du zaubern mußt.«
»Natürlich nicht«, sagt er und lächelt, weil er nichts verstanden hat.
Auf der Lotter Straße ist keine Menschenseele unterwegs. An der Ecke bei Mönkediecks Gemüseladen steht Evas Wagen, so eine kleine, dem Zeitgeist hörige Blechkiste. Fokko denkt, der Freund könnte doch mit dem klobigen Fischlaster versehentlich einen Spiegel mitnehmen oder sonstwie das Design verfeinern, aber Hinrich hat dem Haus gegenüber einen Parkplatz gefunden, stellt den Motor ab, reckt sich und gähnt.
Fokko steigt aus, zieht die alte Arbeitsjacke mit dem Tankstellen-Logo an, steckt die Uhr in die eine Tasche, die Schlüssel in die andere und wirft den Parka hinten in den Laster.
»Wo hast die her?«
»Die Jacke?« Fokko grinst. »Hab ich eben aus der Tanke geholt. Ist meine.«
»Eben?«
»Auf der Kreuzung…«
»…hast du die Uhr aufgeklappt!«
Hinrich schüttelt den Kopf. Es ist offensichtlich, daß er sich nicht daran gewöhnen will, an die Zauberei zu glauben, aber eben so offensichtlich gibt es diese Jacke, die er bisher noch nie gesehen hat.
»Gutes Stück«, sagt er, faßt Fokko an der Schulter und dreht ihn ein wenig. »Mit dem extravaganten Zapfhahn auf dem Rücken fällt man überhaupt nicht auf.«
»Wir machen hier nichts unauffälliges, Fox! Das ist alles regulär, ich hole nur die Sachen, die mir gehören. Will dabei bloß keiner alten Geschichte begegnen.«
»Und wenn sie dir zu nahe kommst, zückst du die Uhr und frierst die Geschichte ein.«
»Sie ist in der Kneipe, garantiert.«
»Das wäre eine Attraktion für das Dorffest«, lacht Hinrich. »Du zauberst kleine Kinder weg oder deine Fischbude oder sonstwas.«
Fokko schaut auf das Haus gegenüber. In der ersten Etage ist kein Licht.
»Gut«, sagt er. »Wir gehen jetzt rein.«
Ohne weiteres kommen sie ins Haus, machen Licht, steigen in die erste Etage und stehen vor der Tür. Unter der Klingel steht nur ihr Nachname: Berglage .
»Das Schild ist neu«, flüstert Fokko, sucht den Schlüssel und steckt ihn ins Schloß.
»Willste vorsichtshalber klingeln?« fragt Hinrich.
»Nein«, sagt Fokko in normaler Lautstärke, »ich wohne hier.«
Der Schlüssel hakt. Er probiert einen anderen. Nichts geht. Er richtet sich auf und schaut den Freund groß an.
»Sie hat das Schloß ausgewechselt, Fox!«
»Oha!«
Er probiert es abermals, aber es hat keinen Sinn.
»Und nun?« fragt Hinrich.
Fokko überlegt nicht lange.
»Das wird ihr nichts nützen, das Problem lösen wir in einer Sekunde!«
»Wie das?«
»Sie ist im Crocodile . Da gehe ich hin, hole mir den Schlüssel und komme wieder, das ist hier um die Ecke, gleich hinter dem Heger Tor.«
»Das dauert aber«, sagt Hinrich und schaut auf seine Kapitänsuhr. »Schon halb zwölf.«
»Eine Sekunde dauert das«, sagt Fokko und holt die Zauberuhr hervor.
»Du willst…?«
»Genau«, sagt er, öffnet die Uhr, legt sie auf die erste Treppenstufe zur zweiten Etage und läßt den in Verwunderung erstarrten Freund vor ihrer Tür Wache
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