Die Uhr der Skythen (German Edition)
feine Karte komponiert, die bis heute Gültigkeit besitzt, kaum ein Dutzend Gerichte, dazu ein paar leichte Weine und der übliche Rest. Unkompliziert muß es sein und hübsch idyllisch, war ihre Philosophie gewesen, und das Konzept war aufgegangen wie handwarmer Hefeteig.
Inzwischen wird das Crocodile von einer undefinierten Klientel besucht und geliebt, eine buntscheckige Legierung, in der eine punkige Schülerin durchaus auf den silberbärtigen Pauker treffen könnte, der sie am Morgen im Geschichtsunterricht schikaniert hat, käme sie nicht erst zu einer Stunde, zu der sich der Pädagoge verzagt in seinem Bett wälzt und davon träumt, am nächsten Morgen gewissenhaft in sein Wohnmobil zu steigen und nach Süden zu fahren, um niemals zurückzukehren.
Wir treffen uns im Krokodil , das ist längst zu einer Floskel geworden, der niemand mehr auch nur eine Spur Ironie abgewinnt, ebensowenig wie dem Signet auf den Bierdeckeln, den Weingläsern und Sonnenschirmen, dieser ingeniösen Karikatur jenes Reptils, das auf besseren Polohemden lebt. Über der Theke schwebt nicht etwa ein furchteinflößendes Monster mit diversen Reihen blitzender Zähne und einer ledernen Patina, sondern ein kindsgroßes Plüschkrokodil, das Eva über die Safari ihrer Kindheit gerettet hat, und wäre es ein anderes Kuscheltier gewesen, so hieße ihr Gasthaus möglicherweise Café Pinguin .
Hinter dem Windfang steht linker Hand ein schwarzes Samtsofa an der Wand neben dem Kaminofen, davor ein eichener Tisch, wie er früher in jedem Wohnzimmer stand, bedeckt von einem schweren Teppich, darauf ein Messingleuchter, Aschenbecher und ein Stapel Zeitschriften. Die Ecke wirkt wie der private Teil des Cafés, und der Gast soll zumindest den Eindruck gewinnen, die Öffentlichkeit vor der Tür gelassen und eine gewisse Nähe, ein Stück Vertraulichkeit gewonnen zu haben, auch wenn das Lokal so wenig familiär ist wie jedes andere und Sofa und Tisch zudem nahezu täglich von Jakob Schwammheimer beansprucht werden, der an diesem frühen Abend des Neujahrstages Kaffee, Wasser und seinen ersten Aquavit vor sich stehen hat, umständlich eine Zigarre entzündet, durch die wilden Rauchwolken aus den Butzenscheiben und über den verschneiten Biergarten hinaus schaut, wer da auf der kleinen Straße so geht und so kommt.
Abend für Abend sitzt er dort wie ein Majordomus, liest Zeitungen, macht sich Notizen, trinkt Wasser und Aquavit und erklärt oder verändert bei wiederkehrender Gelegenheit die Welt. Der große Schwamm allerdings, als der er über Jahrzehnte galt, der Leichtfuß und Zampano ist er längst nicht mehr, ist in die Jahre gekommen und still geworden, der Elder statesman der Szene, dessen Altersweisheit am ehesten ihren Ausdruck in seinen reservierten Gebärden und der gedeckten Garderobe zeigt: man sieht ihn niemals anders als in dunkler Kleidung mit Jackett, Weste und einem offenen Button-down-Kragen, aus dem sein Kopf wendig und gebeugt hervorragt wie der einer jesuitischen Schildkröte, der Hals faltig, die Haut fleckig und in der Nasenspitze von Geneverkristallen gefärbt. Seine Augen haben sich im Laufe seines gelebten Lebens tief in ihren Ursprung zurückgezogen, blinzeln und blitzen aus ihren Nestern aus Hautfalten durch die randlose Brille, die ihm stets schräg auf dem großen Kopf sitzt, und das weiß durchwachsene Haar, das er sich so häufig und dezidiert aus der Stirn streicht, als gehörte es nicht zu ihm, der melierte Bart, der ihm auswächst wie eine exotischer Ausschlag, die verbogene Brille, die asymmetrische Linie seines Mundes, in der sich eine resignierte Botschaft dauerhaft eingeschrieben zu haben scheint, dazu das leichte Zittern der ebenmäßigen Hände, das alles könnte jemand, der ihn mit unbefangenem Blick berührte, ein bleiernes Schicksal assoziieren lassen, ein begnadetes Künstlertum oder eine geschlossene Anstalt.
Aber es kommt selten einmal ein Gast mit einem fremden Blick, und wenn, so verliert er sich bei dem gewöhnlichen Trubel eher in dem brillanten Tierfilm über Jugendlichkeit und Eloquenz, über Attraktivität und Instinkt, der hier allabendlich gegeben wird, wohl kaum aber in den Anblick eines älteren Herrn, der mit müden Augen in der Sofaecke sitzt, sein Schnapsglas zwischen Daumen und Zeigefinger dreht und wie der Kinobesitzer nicht den geringsten Zweifel daran zuzulassen scheint, daß er eine privilegierte Distanz erwartet.
Daß Jakob Schwammheimer ein Lebenskünstler sei, steht ihm nicht eben in
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