Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
während sie schlief. Masako, die noch nicht ganz aus dem Alptraum erwacht war, starrte Yoshiki verständnislos und ungläubig an.
»Steh auf und schau dir das an! Ist das nicht eine Bekannte von dir?«
Yoshiki zeigte auf einen Artikel in der Zeitung, die er in der Hand hielt. Masako fuhr hoch und sah genauer hin: Der Aufmacher auf Seite drei trug die Überschrift: »Zerstückelte Leiche im Park als Angestellter aus Musashi-Murayama identifiziert«. Wie Masako vorausgesehen hatte, war es der Polizei also tatsächlich gestern Abend noch gelungen, Kenjis Identität festzustellen. Als gedruckter Text verloren die Fakten an Überzeugungskraft, alles kam ihr plötzlich seltsam unwirklich vor. Während sie sich noch darüber wunderte, las Masako den ganzen Artikel.
»Yayoi Yamamoto, die Ehefrau des Opfers, die als Teilzeitkraft in einer nahe gelegenen Fabrik beschäftigt ist, war in der Nacht, als ihr Mann Kenji spurlos verschwand, nicht zu Hause, da sie in Frühschicht arbeitete. Die Ermittlungsbehörden gehen derzeit allen Spuren nach, die Aufschluss über den Verbleib Kenji Yamamotos nach Verlassen seiner Firma geben könnten«, hieß es nur; Genaueres stand nicht da. Das Hauptinteresse des Artikels galt dem bizarren Umstand, dass die Leiche zerstückelt und in Einzelteilen weggeworfen worden war.
»Na? Du kennst sie doch, oder?«
»Ja, natürlich, aber woher weißt du das?«
»Hat sie nicht schon öfter hier angerufen? ›Hier ist Yamamoto aus der Fabrik‹, so meldet sie sich immer. Außerdem steht da, dass sie hier in der Nähe Nachtschicht macht, und da gibt es doch nur eine Möglichkeit.«
Ob er nicht auch das Telefongespräch an jenem Abend mitbekommen hatte, als Yayoi anrief und sie um Hilfe bat? Unwillkürlich schaute Masako ihm in die Augen. Beschämt, dass er so aufgeregt war, wandte Yoshiki sich ab.
»Ich dachte nur, dass du so schnell wie möglich davon erfahren solltest …«
»Ja, danke.«
»Was da nur passiert sein mag? Ob irgendjemand ihn denn so sehr gehasst hat?«
»So ein Typ schien er mir gar nicht gewesen zu sein. Tja, was kann da nur vorgefallen sein?«
»Du verstehst dich doch gut mit Frau Yamamoto, oder? Solltest du nicht mal bei ihr vorbeischauen?« Yoshiki blickte Masako, die so gar nicht aus der Fassung geraten war, verwundert an.
»Mal sehen«, antwortete sie ausweichend und sagte nichts weiter, sondern tat so, als sei sie in die Zeitung vertieft, die vor ihr auf dem Bett lag. Yoshiki, der das einigermaßen merkwürdig zu finden schien, ging zu ihrem gemeinsamen Kleiderschrank, der sich im Schlafzimmer befand, und holte einen seiner Anzüge heraus. Offensichtlich wollte er in die Firma gehen, obwohl er samstags eigentlich frei hatte. Masako stand hastig auf und machte noch im Schlafanzug das Bett.
»Nein wirklich, meinst du nicht, du solltest besser bei ihr vorbeigehen und dich ein wenig um sie kümmern?«, wiederholte Yoshiki, Masako den Rücken zugewandt. »Sie wird es jetzt nicht leicht haben, mit der Polizei im Haus, Presse und Fernsehen belagern sie sicher auch schon, sie kann einem richtig Leid tun!«
»Gerade deshalb sollte man sie vielleicht nicht auch noch belästigen, sondern lieber in Ruhe lassen«, antwortete sie, und Yoshiki zog sich schweigend das T-Shirt aus. Masako betrachtete ihn von hinten. Die Muskulatur war erschlafft, sein ganzer Körper machte einen eingefallenen Eindruck. Er hatte sich schon zum abgeklärten alten Mann entwickelt, seelisch wie körperlich. Als spürte er ihre Blicke, versteifte sich Yoshiki.
Ihre Erinnerungen an die Zeit, da sie einander nahe gestanden hatten, waren nicht etwa verblasst, weil sie aufgehört hatten, sich zu berühren, sondern weil sie irgendwann verschiedene Wege eingeschlagen hatten und sich nun an verschiedenen Orten befanden. Sie waren nicht mehr Mann und Frau, nicht einmal mehr Vater und Mutter, sondern gingen in die Firma, zur Schicht, machten die Hausarbeit – sie erfüllten die notwendigen Pflichten, um dieses Haus zu erhalten, mehr nicht. Sie selbst waren dabei langsam, aber sicher kaputtgegangen, glaubte Masako.
Yoshiki zog ein weißes Hemd über seinen nackten Oberkörper
und drehte sich zu ihr um. »Dann ruf sie doch wenigstens an. Du bist wirklich gefühllos!«
Masako ließ sich dieses Wort durch den Kopf gehen. Vielleicht war sie tatsächlich dabei, ihr Gefühl für die normalen zwischenmenschlichen Verhaltensweisen zu verlieren, da sie allzu eng in das Geschehen verwickelt war. Die Gepflogenheiten außer
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