Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Zeit mit der Arbeit alleine dastand, Sake wärmte und Gläser spülte. Es war so erbärmlich, dass es schon fast wieder komisch wurde. In schlimmen Jahren ließ man die Frauen sogar das Erbrochene von besoffenen Angestellten wegputzen. Es gab eine ganze Reihe von Mitarbeiterinnen, die aus lauter Verzweiflung über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit ihre Stelle aufgegeben hatten.
Aber die Neujahrsfeier war nur einmal im Jahr – und Masako ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen. Nein, was Masako am meisten ärgerte, war, dass sie in all den Jahren vorbildlicher Arbeit nie einen höheren Posten bekommen hatte und immer noch auf derselben Stelle in der Darlehensverwaltung festsaß, die ihr damals beim Eintritt in die Firma zugewiesen worden war. Der Inhalt ihrer Tätigkeit hatte sich in zehn Jahren nicht für einen einzigen Tag geändert, obwohl sie morgens schon um acht an ihrem Schreibtisch saß und fast jeden Abend bis kurz vor neun Überstunden machte. Wie fleißig sie auch war, alle wichtigen Entscheidungen, wie über die Vergabe von Krediten und dergleichen, trafen grundsätzlich die Männer – Masako durfte immer nur zuarbeiten.
Sämtliche männlichen Kollegen, die im gleichen Jahr wie sie in die Firma eingetreten waren, hatten Masako nach spätestens zehn Jahren überholt: Sie hatten allerlei Schulungen und Weiterbildungskurse in Anspruch nehmen können und waren zumindest auf den Posten eines Unterabteilungsleiters vorgerückt. Danach hatte es nicht mehr allzu lange gedauert, bis man ihr als Chef
einen jungen Spund vor die Nase setzte, der später in die Firma eingetreten war als sie.
Eines Tages fiel ihr zufällig der Gehaltsauszug eines männlichen Kollegen derselben Altersstufe in die Hände, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Er bekam im Jahr fast zwei Millionen mehr als sie. Masako, die mittlerweile zwanzig Jahre für die Firma gearbeitet hatte, erhielt ein Jahresgehalt von vier Millionen sechshunderttausend Yen.
Nach einigem Hin- und Herüberlegen hatte sie ihren Abteilungsleiter, der derselben Altersstufe angehörte wie sie selbst, schließlich doch um ein Gespräch unter vier Augen gebeten und verlangt, dass man sie dieselbe Arbeit tun ließ wie ihre männlichen Kollegen. Sie würde sich weiter nach Kräften für die Firma anstrengen, aber sie wolle einen höheren Posten.
Am darauf folgenden Tag begann das offene Mobbing. Mit einem Schlag gingen sämtliche weiblichen Angestellten auf Distanz, da man ihr Anliegen offenbar entstellt weitergegeben und das Gerücht in Umlauf gebracht hatte, sie plane, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Sie wurde nicht einmal mehr zu den monatlichen Essen eingeladen, die die Frauen regelmäßig veranstalteten. Plötzlich stand sie vollkommen alleine da.
Wann immer die männlichen Angestellten Kundengespräche hatten, wurde nur noch Masako angewiesen, ihnen Kaffee oder Tee vorbeizubringen, und sie musste wesentlich häufiger als früher Kopien für sie ziehen. Dadurch blieb ihr natürlich immer weniger Zeit für die eigene Arbeit, und sie musste mehr und mehr Überstunden machen. Das brachte ihr bei der Personalbeurteilung eine schlechte Bewertung ihrer Arbeitseffizienz ein, woraufhin eine Beförderung mit Verweis auf ihre schlechten Leistungen abgelehnt und ihr sogar noch ein Tadel erteilt wurde.
Doch Masako hielt alles aus. Sie machte Überstunden bis spät in die Nacht und nahm die Arbeit, die sie nicht erledigt hatte, mit nach Hause. Nobuki, der noch in der Grundschule war, geriet emotional aus dem Gleichgewicht und wurde schwierig, und Yoshiki schimpfte, sie solle doch endlich diese unmögliche Stelle kündigen. Wie ein Pingpong-Ball flog sie jeden Tag zwischen Firma und Familie hin und her, doch beides trieb sie in die Einsamkeit. Nirgends gab es einen Ort, an den sie sich flüchten konnte.
Da passierte es. Masako machte einen Vorgesetzten auf einen Fehler im Zusammenhang mit einer ungedeckten Finanzierung aufmerksam und erntete eine Ohrfeige. Der »Vorgesetzte«, ein völlig unfähiger, wesentlich jüngerer Mann, schlug sie und schrie: »Halt’s Maul, du alte Schreckschraube!«
Das Ganze geschah spätabends während der Überstunden und erregte kein Aufsehen, aber es hatte eine tiefe, unsichtbare Wunde in Masakos Selbstwertgefühl hinterlassen. War es denn so bedeutend, ein Mann zu sein? Genügte es, die Universität zu absolvieren? Konnte man ihr in dieser Firma denn gar keine Erfahrung, keinen Ehrgeiz zubilligen? Sie hatte auch vorher schon
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