Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
versetzen. Sie zitterte am ganzen Leibe.
Der andere, schmal und mit verschwindend kleinem Kinn, sagte nur: »Ich heiße Imai.« Es musste der Beamte vom hiesigen Revier sein. Er war jünger und schien sich in Kinugasas Gegenwart völlig zurückzunehmen; mehr bekam sie von ihm nicht mit.
Als die beiden eintraten, wandten sie sich sofort an Yayois Vater, der voller Sorge an der Seite seiner Tochter stand, und baten ihn, zusammen mit den Kindern das Haus zu verlassen. Ihre Eltern hatten sich, nachdem Yayoi sie am Abend angerufen hatte, sofort ins Auto gesetzt und waren aus Kōfu herbeigeeilt. Sie standen noch unter Schock. Zusammen mit ihrem quengeligen, völlig übermüdeten jüngsten Enkelkind und seinem vor Aufregung erstarrten größeren Bruder gingen sie aus dem Haus. Sie dachten
sicher nicht im Traum daran, dass ihre Tochter unter Verdacht stand. Für sie war alles ein unfassbares Unglück.
»Wir bedauern, Sie in Ihrer Trauer stören zu müssen, Frau Yamamoto, aber wir möchten Ihnen einige Fragen stellen«, gab Imai den Auftakt.
Nachdem die beiden Beamten das Wohnzimmer betreten hatten, kam ihr die Zimmerdecke plötzlich tief und erdrückend vor. Yayoi seufzte. Ausgerechnet jetzt, da Kenji mit seiner ewigen schlechten Laune endlich daraus verschwunden war und sie mit ihren Kindern hier in Frieden leben konnte! Es schnürte ihr die Brust zusammen, so fühlte sie sich von den beiden Männern unter Druck gesetzt.
»Ja, bitte«, antwortete sie mit ersterbender Stimme, und Kinugasa sah sie unverhohlen von oben bis unten an, ohne etwas zu sagen. Wenn der sie richtig in die Mangel nähme, würde sie wahrscheinlich auf der Stelle gestehen. Reflexartig duckte sich Yayoi, und Kinugasa begann mit der Befragung. Sein Atem stank nach Nikotin, und seine Stimme klang unerwartet schrill, aber liebenswürdig. Das irritierte sie.
»Mit Ihrer Hilfe werden wir den Täter bestimmt bald fassen können, Frau Yamamoto.«
»Ja.«
Während er sich mit der Zunge über die dicken Lippen fuhr, sah er Yayoi in die Augen. Er fand es vielleicht verdächtig, dass sie nicht weinte. Das irritierte sie noch mehr. Denn Tränen hatte sie nicht mehr, die Quelle war versiegt.
»Beginnen wir mit Dienstagabend. Unseren Informationen zufolge sind Sie an diesem Abend zur Arbeit gegangen, obwohl Ihr Mann nicht nach Hause gekommen war. Sie haben die Kinder also einfach allein gelassen. Haben Sie sich denn gar keine Sorgen gemacht? Es hätte doch Feuer ausbrechen oder ein Erdbeben geben können!« Kinugasas ohnehin schmale, verschlagen wirkende Augen verengten sich noch mehr. Erst geraume Zeit später bemerkte sie, dass das Ausdruck seines Lächelns war.
»Er kam immer…« Fast hätte sie geantwortet: Er kam immer zu spät, daran war ich gewöhnt, und trotzdem habe ich mir jedes Mal schreckliche Sorgen um die Kinder gemacht. Sie geriet ins Stocken. Wenn sie zugab, dass das der Normalzustand gewesen
war, würde doch herauskommen, dass es Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte! Hastig fing sie noch einmal von vorne an: »Er kam immer rechtzeitig nach Hause, bevor ich los musste, aber an dem Abend war er zu spät, deshalb bin ich unter Sorgen losgegangen. Aber als ich dann am nächsten Morgen zurückkam, war ich völlig entgeistert!«
»Entgeistert, aha. Und warum das?« Kinugasa nahm ein in braunes Plastik gebundenes Notizbuch aus der Gesäßtasche seiner Baumwollhose und schrieb etwas hinein.
»Warum, fragen Sie...?« Plötzlich wurde Yayoi wütend. »Haben Sie denn keine Kinder, Herr Kommissar?«
»Doch. Mein Sohn geht zur Universität, und die jüngere Tochter zur Oberschule. Wie steht’s bei dir, Imai?«
»Die beiden älteren sind in der Grundschule und der Kleinste noch im Kindergarten«, antwortete Imai ergeben.
»Dann müssten Sie doch wissen, wovon ich rede. Die beiden kleinen Kinder einfach die ganze Nacht alleine zu lassen! Deshalb war ich zuerst einfach nur wütend.«
Kinugasa schrieb wieder etwas auf. Imai machte den Eindruck, als würde er ganz unter Kinugasas Fuchtel stehen, denn er saß nur schweigend mit aufgeschlagenem Notizbuch da und hörte zu.
»Wütend heißt wütend auf Ihren Mann, nicht wahr?«
»Natürlich, was glauben Sie denn! So spät zu kommen, obwohl er doch weiß, dass ich zur Arbeit muss!«
So spät zu kommen... Plötzlich merkte Yayoi, dass ihr mit der ganzen aufgestauten Wut gegen Kenji ein Satz zu viel herausgerutscht war, und schwieg. Schnell korrigierte sie sich: »… aber dann ist er gar nicht
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