Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
auf!«
»Will aber nicht!« Die Frau klammerte sich an ihm fest.
»Du musst doch zur Schule!«
Die Frau war sicher allenfalls im ersten Jahr der Oberschule. Von »Frau« konnte man daher kaum sprechen, die Bezeichnung »Mädchen« wäre treffender gewesen, aber da er sich nun einmal nur für blutjunge Dinger erwärmen konnte, war sie für ihn eine Frau.
»Kein Problem, heute ist Samstag, da mach ich blau.«
»Das gilt aber nicht für mich, also steh schon auf!«
Die Kleine gab unwillige Laute von sich und gähnte ausgiebig. Dabei konnte er ihr in den Mund schauen. Weiße Zähne und rosafarbenes Fleisch. Alles an ihrem unreifen, aber schönen Körper war rosig und weiß. Nachdem er sie noch einmal betrachtet hatte und bedauerte, sich von ihr trennen zu müssen, stand er auf und machte die Klimaanlage an. Sofort fächelte ihm staubiger, übel riechender Wind ums Gesicht.
»He, mach Frühstück!«
»Nee, keine Lust.«
»Spinnst du? Du bist die Frau, also ab in die Küche!«
»Ich kann das nicht.«
»Blöde Kuh, da bist du wohl auch noch stolz drauf, was?«
»Hör auf, so zu reden, du verdirbst einem ja die Laune!« Die Kleine schmollte, nahm sich eine von Jūmonjis Zigaretten und
steckte sie sich zwischen die Lippen. »Echt nervig, aber von einem Opa wie dir musste so was ja kommen!«
»Wie bitte? Ich bin erst einunddreißig!« Jūmonji wurde ernst. Die Kleine lachte spöttisch und sagte: »Das ist schon ganz schön alt!«
»Aha, dann verrat mir doch mal, wie alt dein Vater ist!« Jūmonji, der sich für jung hielt, war ernsthaft sauer.
»Einundvierzig oder so.«
»Nur zehn Jahre älter als ich...« Plötzlich kam er sich gealtert vor. Er ging in die Nasszelle neben der Eingangstür seines Apartments, trat vor die Toilette und urinierte. Nachdem er sich auch gleich durchs Gesicht gewaschen hatte, öffnete er die Tür in der Hoffnung, dass sie vielleicht wenigstens Kaffeewasser aufgesetzt hätte. Aber das Mädchen lag noch im Bett, nur die langen, goldbraun gefärbten Haare schauten aus den Laken hervor. Jūmonji sah rot.
»Raus da, steh auf, sofort, und verschwinde von hier!«
»Du hast sie wohl nicht alle, du Affenarsch!« Die Kleine trat ein paarmal wütend mit ihren dicklichen Beinen ins Leere.
Plötzlich fragte Jūmonji: »Wie alt ist denn deine Mutter?«
»Dreiundvierzig. Sie ist älter als mein Vater.«
»Ach ja? Tja, bei Frauen über dreißig ist das Verfallsdatum abgelaufen, sie zählen nicht mehr.«
»Meine Mutter ist noch jung! Und schön ist sie außerdem!«, gab die Kleine trotzig zurück. Sie war eingeschnappt. Jūmonji, der für ältere Frauen absolut nichts übrig hatte, lachte hämisch in sich hinein: Die Rache hatte gesessen. Das Mädchen machte immer noch ein beleidigtes Gesicht, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ging die Zeitung holen.
Als er sich damit aufs Bett fallen ließ, hatte die Kleine die Arme vor der Brust verschränkt und warf ihm von der Seite einen bösen, tadelnden Blick zu. Der Blick wirkte schrecklich erwachsen, und er fragte sich, wie die Kleine später wohl aussehen würde, wenn sie älter war. Er versuchte sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen, nahm ihr Kinn zwischen die Fingerspitzen, hob ihren Kopf und drehte ihn hin und her, um sie eingehend von vorne und von den Seiten zu betrachten.
»Was soll das, du bist unmöglich, da kann einem ja schlecht werden!«
»Lass mich doch, was ist denn schon dabei?«
»Hör auf! Was guckst du mich so unheimlich an?«
»Ach, ich dachte nur – du wirst auch mal älter.«
»Klar – na und?« Das Mädchen schlug seine Hand weg.
Dreiundvierzig. So alt dürfte mittlerweile auch Masako Katori ungefähr sein, die er gestern zufällig wiedergetroffen hatte. Sie war noch so dünn wie eh und je und hatte sich mehr und mehr zu einer dieser zickigen Tanten entwickelt, vor denen man Angst haben konnte. Aber Masako Katori hatte auf Jūmonji immer schon einen starken Eindruck gemacht.
Masako Katori war Angestellte der Spar- und Darlehenskasse gewesen, die sich einmal in Tanashi-City befunden hatte. Man musste die Vergangenheitsform verwenden, weil die Kasse von einem großen Kreditinstitut übernommen worden war, nachdem ihr im Zuge der Seifenblasen-Ökonomie zu viele Immobiliarkredite geplatzt waren und sie ihr Geld nie wiedergesehen hatte. Jūmonji hatte über ein Inkassobüro, für das er im Untervertrag als Geldeintreiber arbeitete, mit der Spar- und
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