Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
begriff sie ihr Motiv, das ihr bis vor wenigen Augenblicken selbst noch unklar gewesen war. Sie hatte diese Grenze aus Verzweiflung überschritten, aus Sehnsucht nach einer anderen Welt. Aber was würde sie in der Welt jenseits dieser Grenze erwarten? Nichts würde sie erwarten! Sie starrte auf ihre weiß gewordenen Finger, die sich immer noch an die Sofalehne klammerten. Es berührte sie schon nicht mehr, ob die Polizei käme und sie festnähme oder ob irgendjemand ihr wahres Motiv durchschaute. Es berührte sie gar nichts mehr. Hinter sich hörte sie mehrere Türen nacheinander ins Schloss fallen. Masako war mit ihrer Einsamkeit allein.
5
Während er sich immer wieder den Schweiß von der Stirn wischte, ging Imai die enge Straße entlang, die allem Anschein nach einmal ein Feldweg gewesen war.
Er befand sich in einer Gegend mit lauter kleinen, alten Wohnhäusern, die der Fortschritt offenbar übersehen hatte. Die oxidierten braunen Zinkdächer waren hoffnungslos verbeult, und die ausgefransten Fliegengitter und verrosteten Regenrinnen lie ßen erkennen, dass seit dem Bau mehr als dreißig Jahre vergangen sein mussten. Die Häuser waren ausnahmslos heruntergekommene Holzbauten, die sofort lichterloh in Flammen aufgehen würden, wenn man ein Streichholz daran hielte.
Kinugasa vom Präsidium hatte sich bis auf weiteres ins Shinjuku-Revier verzogen, da er sich auf einen Mann aus Kabuki-chō als Täter eingeschossen hatte. Es handelte sich um den Betreiber eines Nachtclubs und des Spielsalons, den Kenji Yamamoto den Ermittlungen nach am Tag seines Verschwindens besucht hatte. Aber Imai hatte beschlossen, sich von Kinugasa abzukoppeln und seine eigenen Nachforschungen anzustellen.
Kinugasa war in Hochstimmung, seit er von der Vorstrafe des
Kasinobetreibers erfahren hatte, doch Imai konnte sich damit nicht zufrieden geben. Irgendetwas an Yayois Verhalten störte ihn, sie überzeugte ihn nicht. Es war mehr eine Eingebung, die er schlecht in Worte fassen konnte. Er hatte das Gefühl, als versuchte Yayoi verzweifelt etwas zu verbergen, das im Zentrum der Ereignisse stand. Das ließ ihm einfach keine Ruhe.
Imai blieb mitten auf der Straße stehen, nahm sein Notizbuch heraus und ging gedankenverloren seine Aufzeichnungen noch einmal von Anfang an durch. Ein paar Grundschüler mit nassen Haaren – offenbar kamen sie gerade aus dem Freibad – drängten sich an ihm vorbei, wobei sie ihn neugierig anstarrten.
Angenommen, Yayoi hätte ihren Mann umgebracht. Dem Vernehmen nach hatte sich das Ehepaar ununterbrochen gestritten, ein hinreichendes Motiv war also vorhanden. Schließlich war ein Totschlag im Affekt bei niemandem auszuschließen. Aber Yayois Statur war selbst für eine Frau zierlich und klein; da dürfte es schwierig sein, einen Mann umzubringen, ohne sich selbst zu verletzen – es sei denn, er schliefe oder wäre stark betrunken. Doch wenn sich Kenji bis zirka zweiundzwanzig Uhr in Shinjuku aufgehalten hatte, konnte er, selbst wenn er sich unverzüglich auf den Heimweg gemacht hätte, frühestens um elf zu Hause gewesen sein. Bis dahin dürfte die Wirkung des Alkohols einigermaßen nachgelassen haben. Außerdem hätte die Nachbarschaft doch sicher etwas gehört, wenn es einen Streit mit tödlichem Ausgang gegeben hätte, und die Kinder wären bestimmt auch wach geworden. Weder in den Zügen noch auf den Bahnhöfen der Seibu-Shinjuku-Linie war Kenji Yamamoto von jemandem gesehen worden. Wieso brach seine Spur in Shinjuku so plötzlich ab?
Gesetzt den Fall, Yayoi hätte es geschafft, ihren Mann umzubringen, und wäre zur Arbeit gegangen, als sei nichts geschehen – wer hatte dann die Leiche entsorgt? Das Bad der Yamamotos war zu klein, außerdem war der Luminol-Test negativ gewesen.
Angenommen, eine der Kolleginnen aus der Fabrik hätte Mitleid mit Yayoi gehabt und ihr beim Beseitigen der Leiche geholfen. Das wäre nicht undenkbar, auch wenn es sich um Frauen handelte. Wider Erwarten waren bei Mordfällen mit zerstückelter Leiche gar nicht so selten Frauen die Täter. Imai hatte Akten und Analysen früherer Fälle studiert. Die, bei denen Frauen die Täter
gewesen waren, hatten zwei Merkmale gemeinsam: Spontaneität und Solidarität.
Einer Frau, die aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Mord begangen hatte, bereitete die Entsorgung der Leiche die größten Schwierigkeiten, da sie rein physisch meist nicht in der Lage war, den leblosen Körper alleine zu tragen. Deshalb blieb ihr oft nichts anderes
Weitere Kostenlose Bücher