Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
mit siebzehn war er, was die Erziehungspflichten betraf, aus dem Gröbsten heraus. Auch ohne Nachtschicht würde Masako ein sorgenfreies Leben führen können. Außerdem: Nach allem, was er gehört hatte, schien sich ihr Umgang mit Yayoi nur auf die Fabrik zu beschränken.
Was war es dann? Geld? Imai erinnerte sich an den wütenden Ausdruck in Masakos Gesicht, als sie von der unangemessenen Entlohnung für Teilzeitarbeit gesprochen hatte. Was das anging, schien sie knallhart zu sein, jedenfalls hatte sie diesen Eindruck auf ihn gemacht. Denkbar war es immerhin, dass Yayoi sie gegen Geld beauftragt hatte. Nach dem Motto, sie könne es nicht selbst erledigen, da sie sich ein Alibi verschaffen müsse – ob Masako das nicht übernehmen könne, es solle auch ihr Schaden nicht sein. So hätte sie auch Yoshië Azuma und Kuniko Jōnouchi ansprechen können. Aber wenn man bedachte, wie sie lebte – sie besaß einfach nicht die finanziellen Möglichkeiten dazu.
Oder wollte sie sie mit dem Geld aus der Versicherung bezahlen? Imai hatte erfahren, dass Yayoi eine größere Summe ins Haus stand. Vielleicht hatte sie Masako und den anderen vorgeschlagen, sie mit der Lebensversicherung ihres Mannes zu bezahlen. Aber dann wäre es völlig unsinnig gewesen, die Leiche zu zerstückeln, da die Identität so schnell wie möglich festgestellt werden musste. Immer wieder stieß Imai auf Probleme. Auch in puncto Motiv steckte seine Theorie in einer Sackgasse.
Er erinnerte sich an Yayois heftige Reaktion beim Anblick der Fotos von der Leiche ihres Mannes. Das war nicht gespielt gewesen, sondern echte Erschütterung, echtes Grauen und Entsetzen. Nein, Yayoi hatte ihren Mann sicher nicht auseinander genommen.
Aber Masakos roter Corolla war weder in jener Nacht in der Umgebung des Hauses der Yamamotos gesehen worden, noch irgendwann in der Nähe des Koganei-Parks, wo die Leichenteile weggeworfen worden waren. Schweren Herzens verwarf Imai
seine Theorie, Yayoi habe ihren Mann umgebracht und dann Masako um Hilfe gebeten, beziehungsweise Masako oder sonst jemand von den Kolleginnen aus der Fabrik hätte die Leiche aus eigenem Antrieb heraus zerstückelt.
Als Nächstes überlegte er, ob nicht ein Mann in Yayois Umgebung als Mittäter in Frage kam. Sie war eine Schönheit, auszuschließen war das daher nicht. Aber es gab auch keinerlei Hinweise dafür.
Imai las noch einmal einige Stellen in seinen Notizen, die er mit Leuchtstift markiert hatte. Es waren die Punkte, die ihm von den Ergebnissen der Befragung der Nachbarschaft besonders aufgefallen waren: das Ehepaar Yamamoto hätte unaufhörlich gestritten; sie hätten kein gemeinsames Schlafzimmer gehabt; die Aussage des älteren der beiden Jungen, sein Vater sei noch einmal nach Hause gekommen (was Yayoi allerdings mit dem Hinweis bestritten hatte, das Kind habe das sicher nur geträumt); die Katze der Yamamotos beträte seit jener Nacht das Haus nicht mehr...
»Die Katze...«, sagte Imai zu sich selbst und sah sich in der Gegend um. In dem mit Nachtkerzen überwucherten Vorgarten eines heruntergekommenen, einstöckigen Häuschens hockte eine braun getigerte Katze, die ihr Hinterteil aus Vorsicht vor ihm geduckt hielt. Imai starrte ihr in die gelben Augen. Vielleicht hatte die Katze der Yamamotos an jenem Abend etwas mitangesehen, was ihr einen solchen Schreck versetzt hatte, dass sie sich nicht mehr ins Haus hineintraute. Aber leider kann man Katzen nun mal nicht verhören, dachte Imai und zog eine Grimasse.
Himmel, war das heiß! Imai wischte sich mit seinem zerknitterten Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht und setzte sich wieder in Bewegung. Nach ein paar Schritten betrat er einen altertümlich anmutenden Süßigkeitenladen, kaufte sich eine Dose kalten Oolong-Tee und trank sie auf der Stelle aus. Der dicke Mann mittleren Alters hinter der Ladentheke glotzte gelangweilt auf den LCD-Bildschirm seines Mini-Fernsehers. Imai sprach ihn an.
»Wo bitte wohnt Frau Azuma?«
Der Mann deutete mit dem Finger auf das Haus an der Ecke.
»Ja, vielen Dank. Wie ich gehört habe, hat Frau Azuma ihren Mann verloren, nicht wahr?«
»Ja, vor vielen Jahren schon. Sie hat es überhaupt schwer, mit der bettlägerigen Schwiegermutter im Haus. Und jetzt ist auch noch ihr kleiner Enkel da. Erst heute kam sie wieder, um Süßigkeiten für ihn zu kaufen.«
»Ah.« Unter diesen Umständen dürfte sie wohl kaum die Kraft übrig gehabt haben, nur aus Spaß an der Freude bei der Entsorgung einer Leiche
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