Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
stehen und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Kazuo wollte hinter ihr her und hatte schon einen Fuß nach vorne gesetzt, als er an ihrem Rücken erkannte, dass sie ihn rundheraus abwies, was seine allerletzte Hoffnung zerstörte.
7
Der Fabrikparkplatz sah zwar aus wie eine ebene Fläche, fiel aber in Wahrheit zu einer Seite hin leicht ab. In der Nacht bemerkte sie es kaum, aber am Morgen, wenn sie müde von der Schicht kam, erschien ihr der Boden unter den Füßen manchmal schief und unsicher.
Masako verspürte einen leichten Schwindel und stützte sich mit beiden Händen am Dach ihres Corollas ab. Auf dem Autodach hatten sich während der Nacht unzählige kleine Tautröpfchen gebildet. Sofort waren Masakos Handflächen nass, als hätte sie sie auf einen Wasserspiegel gelegt. Sie wischte sie an den Seiten ihrer Jeans ab.
Dass dieser junge Brasilianer so etwas zu ihr sagte! Es war keine Lüge gewesen, das wusste sie genau. Sie erinnerte sich an den Morgen, als er wie ein kleiner, verirrter Hund, der nicht wusste, wohin, hinter ihr hergelaufen war. Als sie sich diesmal jedoch, genau wie an jenem Tag, umdrehte und zum Weg zurückblickte, war von Kazuo nichts mehr zu sehen. Sie hatte ihm sicher wehgetan.
Er hatte ihr einen Schock versetzt. Nicht so sehr, weil er den Schlüssel wieder aus dem Kanal gefischt hatte, sondern mit der Stärke seiner Gefühle für sie, die zwischen strahlendem Licht und tiefem Schatten zu schillern schienen. Es waren Gefühle, die sie im Moment überhaupt nicht gebrauchen, mit denen sie absolut nichts anfangen konnte. Ja, hatte sie denn sogar schon aus ihrem Gedächtnis verbannt, wie sie funktionierten? Würde sie so weiterleben können? Wieder überfiel sie ein Gefühl unendlicher Einsamkeit, wie schon am Tag zuvor.
Doch es gab kein Zurück mehr. Sie hatte eine Grenze überschritten, hatte eine Leiche zerstückelt und weggeschafft, und jetzt wollte sie sogar jede Erinnerung daran tilgen. Masako wurde speiübel, und sie übergab sich neben dem Wagen. Doch sooft sie sich auch erbrach, der Brechreiz ließ nicht nach. Masako kniete auf der Erde neben ihrem Auto, weinte und erbrach wieder und wieder gelben Magensaft.
Nachdem sie sich Speichel und Tränen mit einem Papiertaschentuch abgewischt hatte, ließ Masako den Wagen an. Sie fuhr nicht
nach Hause zurück, sondern bog links vom gähnend leeren Shin-Oume-Highway auf die Straße ab, die zum Sayama-See führte. Bald stieg die Fahrbahn steil an und schlängelte sich in engen Serpentinen den Berg hinauf. So früh am Morgen gab es kaum Verkehr. Masako begegnete auf der gesamten Strecke, die sie im zweiten Gang hinauffuhr, nur einem alten Mann auf einem Moped.
Rechts und links von der Brücke erschien als flacher Spiegel der Sayama-See, der entstanden war, als man einen Staudamm durch ein Tal gezogen hatte. Mit den Aufschüttungen hellbrauner Bauerde, die ihn umgaben, und der flachen, an Disneyland erinnernden Landschaft um ihn herum haftete ihm eine für künstliche Seen typische Unwirklichkeit an. Nobuki hatte als Kind beim Anblick des Sees einmal fürchterlich angefangen zu weinen, weil er Angst hatte, ein Ungeheuer würde darin wohnen und plötzlich auftauchen. Der Drache kommt, der Drache kommt, hatte er geschrien, sein Gesicht in Masakos Schoß vergraben und den See nicht einmal mehr anschauen wollen. Masako lachte lautlos in sich hinein, als sie sich jetzt daran erinnerte.
Der Wasserspiegel des Stausees glänzte in der Morgensonne und blendete Masako; die übergroße Helligkeit war wohl zu viel für ihre müden Augen. Blinzelnd warf sie einen flüchtigen Blick über den See, bog in die Straße ein, die zum Unesco-Dorf führte, und fuhr den Waldweg eine Zeit lang bergauf. Endlich kam die Stelle in Sicht, die ihr im Gedächtnis geblieben war, und Masako parkte ihren Wagen auf dem schmalen, grasüberwucherten Seitenstreifen. Von hier aus waren es zu Fuß etwa fünf Minuten in den Wald hinein zu der Stelle, an der sie Kenjis Kopf vergraben hatte.
Masako stieg aus, schloss den Wagen ab und bahnte sich einen Weg durch das Gehölz. Ihr war vollkommen klar, dass sie sich mit dem, was sie da gerade tat, zusätzlich in Gefahr begab. Sie wusste ja nicht einmal, was sie hier eigentlich wollte. Ihre Füße bewegten sich wie von selbst.
Aus einigen zig Metern Entfernung starrte Masako auf den Boden unter dem großen Keyaki-Baum, den sie als Anhaltspunkt genommen hatte. Nur ein winziger Fleck Erde lugte zwischen dem Unterholz heraus. In der
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