Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
frische Geruch von wucherndem Wiesengras lag in der Luft und überdeckte ein wenig den fauligen Gestank aus dem Abwasserkanal. Doch schon bald würde die Sommerhitze alles vereinnahmt haben. In wenigen Stunden würde der Weg weiß sein von trockenem Staub, die Gräser würden die Spitzen hängen lassen und einen durchdringenden, schweren Geruch verströmen.
Kazuo merkte, wie Masako stutzte, als ihr Blick zufällig auf den Kanal fiel. Ein Betondeckel stand offen. Es war der, den Kazuo am Tag zuvor aufgeschoben und so liegen gelassen hatte. Er sah, wie sich Angst in Masakos Gesicht abzeichnete, und wusste nicht, was er tun sollte. Musste er ihr sagen, dass er das gewesen war? Aber er konnte doch nicht zugeben, dass er so niederträchtig
war und das, was Masako weggeworfen hatte, einfach wieder herausgefischt hatte! Kazuo stieß beide Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und blickte zu Boden.
Mit noch fahlerem Gesicht als zuvor ging Masako auf den Kanaldeckel zu und spähte durch den Spalt nach unten. Kazuo war zu nichts anderem fähig, als ihr stumm von hinten zuzusehen. Schließlich schaffte er es doch noch, etwas über die Lippen zu bringen, aber es waren Worte, die er von seinem stets schlecht gelaunten Vorgesetzten Nakayama aufgeschnappt hatte, weil er sie oft genug zu hören bekam:
»Was machst du da?!«
Er ahnte, dass sich das derb angehört haben musste, aber es war das Einzige aus seinem beschränkten Wortschatz, was zu dieser Situation passte. Masako drehte sich um, sah zuerst in Kazuos Gesicht und dann auf den Schlüssel, der ihm um den Hals hing.
»Ist das da dein Schlüssel?«
Kazuo nickte langsam und schüttelte dann den Kopf. Er konnte Masako einfach nicht belügen. Ungehalten über sein unschlüssiges Verhalten, zog Masako die Brauen zusammen. »Du hast ihn doch nicht etwa da herausgeholt, oder?«
Kazuo breitete die Arme aus und zuckte die Achseln. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu sagen: »Doch.«
»Warum?« Masako kam auf ihn zu und baute sich direkt vor ihm auf. Sie war groß und reichte ihm bis zum Mund. Ihre wilde Entschlossenheit ließ Kazuo zurückschrecken. Unwillkürlich griff er mit beiden Händen nach dem Schlüssel, denn er wollte ihn sich nicht von ihr wegnehmen lassen.
»Wann hast du mich gesehen? Warst du etwa da irgendwo und hast mich beobachtet?« Energisch zeigte Masako auf das Dickicht aus Wiesengras vor der stillgelegten Fabrik. Als würden Wärmestrahlen aus ihrer Fingerspitze schießen, flogen dort ein paar Käfer auf. Eingeschüchtert nickte Kazuo.
»Warum?«
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Wieso hast du das getan?«
»Wir haben so versprochen, oder?«
»Ich habe gar nichts versprochen. Gib mir das zurück!« Masako streckte ihre rechte Hand aus, und Kazuo meinte die Hitze spüren
zu können, die davon ausging. Aber er wollte den Schlüssel nicht hergeben. Er hielt ihn fest und sagte: »Nein!«
Masako stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. »Was willst du denn bloß damit, warum willst du ihn unbedingt behalten?«
Wieso wusste sie das nicht? Oder wollte sie es aus seinem Mund hören? Wie grausam von ihr, dachte Kazuo und blinzelte sie scheu an.
»Komm, gib den Schlüssel her. Es ist wichtig für mich, ich brauche ihn.«
Er hatte ungefähr verstanden, was sie gesagt hatte, aber er begriff es nicht. Wenn der Schlüssel so wichtig für sie war, hätte sie ihn doch nicht weggeworfen! Sie wollte ihn bloß zurückhaben, weil er ihn jetzt um den Hals trug. »Nein!«
Masako biss sich auf die dünnen Lippen, als hätte sie aufgegeben. Sie versank in Schweigen und schien zu überlegen, was sie nun machen sollte. Als Kazuo sah, wie sie mit hängenden Schultern dastand, griff er nach ihrer Hand. Masakos Hand war so dünn und zierlich – fast nur Haut und Knochen -, dass sie zweimal in seine hineingepasst hätte.
»Ich mag dich gern«, sagte Kazuo und sah sie an. Fassungslos starrte Masako zurück. »Warum? Weil du das neulich Nacht gemacht hast?«
Kazuo hätte ihr gerne begreiflich gemacht, wie sehr er davon überzeugt war, dass sie ihn verstehen könne, aber es fielen ihm keine passenden Worte dazu ein. Ungeduldig wiederholte er denselben Satz noch einmal, wie im Japanisch-Unterricht: »Ich mag dich gern.«
Masako zog ihre Hand aus der seinen. »Ich kann deine Gefühle nicht erwidern.«
Kazuo begriff, dass das eine Abfuhr gewesen war, und wurde von tiefer Verzweiflung gepackt. Masako ließ den erstarrten Kazuo einfach
Weitere Kostenlose Bücher