Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Umgebung hatte sich nichts verändert.
Aber jetzt, da der Sommer seinen Höhepunkt erreicht hatte, wimmelte es im Wald vor Leben, mehr noch als vor zehn Tagen; alles um sie herum schien ein einziges Lebewesen zu sein, das seinen intensiven, atemberaubenden Geruch verströmte. Mittlerweile dürfte Kenjis Kopf schon stark verwest und zu einer breiigen Masse zerfallen sein, die den vielen Insekten im Boden ein willkommenes Mahl bereitete. Diese Vorstellung war unbarmherzig, aber auch ein wenig tröstlich. Denn so hatte sie den Waldbewohnern wenigstens einen Schädel spendiert.
Einige Strahlen der aufsteigenden Sonne schafften ihren Weg durch die Baumkronen und stachen ihr ins Auge. Masako löste die vor der Brust verschränkten Arme, hob eine Hand schützend an die Stirn und starrte länger als zwanzig Minuten immer auf dieselbe Stelle. Wie Wasser aus einem aufgedrehten Wasserhahn flossen die Gedanken, Erinnerungen und Assoziationen aus ihr heraus, so dass sie die Zeit vergaß.
An jenem Tag hatte sie sich mit der Papiertüte mit dem Schädel in der Hand auf die Suche nach einem geeigneten Platz gemacht, wo sie ihn vergraben konnte. Kenjis Kopf war schwer, und, obwohl sie zwei Kaufhaustüten ineinander gestülpt hatte, drohten die Böden auszureißen. Außerdem trug sie noch einen Spaten. Während sie sich mit den Arbeitshandschuhen immer wieder den Schweiß von der Stirn wischte, wechselte sie die Tragehand oder nahm die Tüte unter den Arm. Dabei drückte sich Kenjis Kinn in ihren Oberarm, und sofort standen ihr am ganzen Körper die Haare zu Berge. Sie erinnerte sich jetzt wieder genau, wie sich das angefühlt hatte, und ein Schauder schüttelte sie.
Masako musste an den Film »Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia« denken. Wie der Mann in dem Film mit dem verwesenden Schädel, den er immer wieder mit Eiswürfeln bedeckt, in einem Bluebird SSS durch die Hitze Mexikos rast. An sein wutverzerrtes, wild entschlossenes, pathetisches Gesicht. Sie selbst hatte vor zehn Tagen, als sie hier umherirrte, bestimmt genauso ausgesehen. Ja, sie war wütend gewesen. Worauf wusste sie nicht. Aber ihr war plötzlich klar, dass sie damals eindeutig wütend gewesen war. Sie, die ganz auf sich gestellt war. Die niemanden mehr um Hilfe bat. Ob sie zornig auf die andere in sich selbst geworden
war, die sie in diesen Zustand hineingetrieben hatte? Und doch hatte die Wut sie befreit. Jener Morgen hatte sie auf jeden Fall von Grund auf verändert.
Masako trat aus dem Wald auf die Straße zurück, setzte sich ins Auto und rauchte in aller Ruhe eine Zigarette. Sie würde nicht noch einmal herkommen müssen. Masako drückte die Zigarette aus, legte einen Gang ein und winkte dem Kopf zum Abschied zu: »Bye-bye!«
Als sie nach Hause kam, waren Yoshiki und Nobuki beide schon zur Arbeit gegangen. Sie hatten getrennt gefrühstückt, davon zeugten die Spuren, die jeder für sich an zwei entfernten Plätzen des Esstischs hinterlassen hatte. Sie räumte das Geschirr in die Spüle und merkte, wie lästig ihr das war. Masako blieb mitten im Wohnzimmer stehen und dachte benommen, ob sie nicht alles stehen und liegen lassen und sich am besten gleich ins Bett legen sollte.
Es gab im Moment weder etwas zu tun noch zu überlegen, sie war nur todmüde von der Nachtschicht, und ihr Körper forderte sein Recht auf Ruhe ein. Plötzlich musste sie an Kazuo denken. Was er wohl gerade machte? Ob er trotz des abgedunkelten Zimmers nicht schlafen konnte und sich sinnlos im Bett herumwälzte? Oder ob er vielleicht an der endlos langen, schattigen, grauen Mauer des Automobilwerks entlanglief? Zum ersten Mal verspürte Masako fast so etwas wie Solidarität für die einsame Gestalt in ihrer Vorstellung. Sie würde ihm den Schlüssel lassen.
Das Telefon klingelte. Es war erst kurz nach acht. Sie hatte keine Lust abzunehmen, es war ihr alles zu viel. Sie bemühte sich, das Klingeln zu ignorieren, nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Aber das Telefon hörte nicht auf zu läuten.
»Masako-san?« Es war Yayoi.
»Morgen. Wie steht’s?«
»Ich hab eben schon mal angerufen, aber da warst du noch nicht da. Du bist spät heute.«
»Ja, tut mir Leid. Ich musste noch woanders vorbei.«
Wo schien Yayoi nicht zu interessieren. Stattdessen fragte sie atemlos: »Hast du die Morgenausgabe gelesen?«
»Noch nicht, wieso?« Masako schaute zur Zeitung hinüber, die auf dem Esstisch lag. Yoshiki faltete sie immer ordentlich zusammen, nachdem er sie
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