Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
in einem Alter war, in dem man sich mit seinen Freunden verglich – und da schämte sie sich offenbar für ihr Zuhause.
Ihr war auch bewusst, dass sie nicht die Stärke besaß, sich mit Miki auseinander zu setzen und sie zu fragen, was es da zu schämen gab. Sie hatte einfach nicht den Mut, ihre Tochter darauf anzusprechen. Weil sie sich selbst erbärmlich vorkam, weil sie sich am allermeisten für sich selbst schämte.
Aber es nutzte alles nichts. Wer sollte ihr schon helfen? Man musste schließlich weiterleben. Auch wenn sie sich wie eine Sklavin fühlte, auch wenn sie sich wie das ewige Dienstmädchen vorkam – wenn sie die Arbeit nicht machte, machte sie niemand. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich tüchtig anzustrengen, um alles so gut wie möglich zu bewältigen. Sonst traf einen die Strafe des Himmels. Bevor Yoshië überhaupt dazu kam, über Lösungswege nachzudenken, hatte ihr Fleiß längst das Ruder übernommen.
Miki stand am Waschbecken und wusch sich das Gesicht mit nagelneuem Reinigungsschaum.Yoshië hatte es sofort bemerkt, denn er roch anders, viel besser als Seife. Die Kontaktlinsen, das modische Haarmousse – ihre Tochter schien sich das alles von dem Geld leisten zu können, das sie beim Jobben verdiente. Im Morgenlicht glänzte Mikis Haar bräunlich.
Als sie die Windel fertig ausgewaschen und sich die Hände desinfiziert hatte, sprach Yoshië Miki, die sich mit ernstem Gesicht vor dem Spiegel die Haare bürstete, darauf an: »Hast du dir die Haare gefärbt?«
»Ja, ein bisschen«, antwortete Miki, ohne mit dem Bürsten aufzuhören.
»So was – das schickt sich doch nicht!«
»›Schickt sich nicht‹ – das ist ja Steinzeitvokabular!« Miki musste sich das Lachen verkneifen. »Heute färben sich doch alle die Haare! Du bist wirklich die Einzige, die noch etwas dabei findet!«
»Wirklich?« In letzter Zeit machte sie sich Sorgen, weil ihre Tochter sich für ihren Geschmack allzu auffällig zurechtmachte.
»Hast du für die Sommerferien schon einen Job?«
»Klar.« Miki besprühte ihr langes Haar mit transparentem Spray.
»Wo denn?«
»In dem Fast-Food-Restaurant am Bahnhof.«
»Wie viel verdienst du da in der Stunde?«
»Oberschüler kriegen achthundert Yen, hieß es.«
Das versetzte Yoshië einen Schlag, so dass sie eine Weile nichts mehr sagen konnte. Siebzig Yen mehr, als man in der Lunchpaket-Fabrik in der Tagschicht bekam! Sollte das etwa heißen, dass allein das Jungsein schon seinen Wert hatte?
»Was ist?« Verwundert sah Miki sie an.
»Ach, nichts. War gestern Nacht mit Oma alles in Ordnung?«, wechselte Yoshië das Thema.
»Sie hat schlecht geträumt und ständig nach Opa gerufen, das hat vielleicht genervt!«
Gestern Nacht war die Schwiegermutter aus irgendeinem Grunde trotzig wie ein Kleinkind gewesen und hatte Yoshië einfach nicht zur Arbeit gehen lassen. Du willst mich bloß loswerden, alleine hier zurücklassen willst du mich, ich bin dir doch nur lästig, hatte sie gejammert, sobald Yoshië Anstalten gemacht hatte, das Haus zu verlassen. Ein Gehirnschlag, durch den sie rechtsseitig gelähmt war, hatte sie vollkommen verwandelt und beinahe umgänglich werden lassen, doch in letzter Zeit benahm sie sich eigensinniger als ein Baby.
»Merkwürdig. Ob sie allmählich verkalkt?«
»Ist mir egal. Verschon mich bloß damit, ich halt’s eh nicht mehr aus!«
»Hör auf, so zu reden! Wenigstens den Schweiß abwischen könntest du ihr ab und zu!«
»Bin ich denn verrückt? Ich will meine Ruhe haben!«, schleuderte Miki ihr entgegen, holte eine Aluminiumdose aus dem Kühlschrank, steckte einen Strohhalm hinein und trank daran. Yoshië hatte lange nicht begriffen, dass es sich dabei um ein Getränk handelte, das neuerdings überall in den 24-Stunden-Läden angeboten wurde und das Frühstück ersetzen sollte. Miki kaufte es, weil ihre Freundinnen es auch taten, es war eben Mode, wie sie sagte.
Statt diesen Kram zu trinken, sollte sie lieber den Reis mit der Miso-Suppe zum Frühstück essen, dachte Yoshië. Wozu habe ich das gestern Abend extra vorgekocht? Die reinste Verschwendung! Früher hatte Miki auch immer eine Dose mit Resten für die Pausen mitgenommen. Heute schien sie stattdessen mit ihren Freundinnen in Fast-Food-Restaurants zu gehen. Woher hatte sie bloß
das Geld dafür? Unbewusst betrachtete Yoshië ihre Tochter mit argwöhnischen Augen.
»Was guckst du so?« Wie um ihren Blick abzuwehren, sah Miki ihre Mutter böse an.
»Nichts.«
»Ach
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