Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
übrigens, das Geld für die Klassenfahrt – was ist jetzt damit? Wir sollen es bis morgen mitbringen.«
Yoshië, die das ganz und gar vergessen hatte, hob überrascht die Brauen. »Wie viel war das noch mal?«
»Dreiundachtzigtausend Yen.«
»So viel?«
»Aber das weißt du doch schon lange!«, schrie Miki wütend. Eine solche Summe konnte sie beim besten Willen nicht aufbringen. Yoshië verfiel ins Grübeln, während Miki sich rasch anzog und das Haus verließ. Es machte ihr Herz noch schwerer, dass Miki diese Summe von ihr haben wollte, obwohl sie genau wusste, wie knapp das Geld war.
»Yoshië!«, hörte sie die fordernde Stimme der Schwiegermutter.
Mit einem frisch gewaschenen Nachthemd auf dem Arm lief sie ins Sechs-Matten-Zimmer. Nachdem sie die Schwiegermutter mühsam umgezogen, sie gefüttert, ihr noch einmal die Windel gewechselt und den Berg dreckiger Wäsche gewaschen hatte, breitete Yoshië endlich ihren Futon neben dem der alten Frau aus und ließ sich darauf fallen. Mittlerweile war es fast neun Uhr.
Die Schwiegermutter war wieder eingenickt, trotzdem fand Yoshië keine richtige Ruhe, denn bald schon war es Mittag, da würde die alte Frau aufwachen und unruhig werden, weil sie ihr Mittagessen haben wollte.
So kam Yoshië nur auf ein paar Stunden Schlaf am Tag. Nachmittags nutzte sie die Pflegepausen für kleine Nickerchen. Außerdem konnte sie meist noch etwas schlafen, kurz bevor sie zur Nachtschicht musste. Wenn man jeden kleinen Fetzen mitzählte, kam sie insgesamt vielleicht auf knapp sechs Stunden. Ein Leben, das sie mit Mühe und Not, mit letzter Kraft aufrechterhalten konnte, das war Yoshiës Alltag, und irgendwann würde alles zusammenbrechen. Genau davor hatte sie Angst.
Yoshië rief bei der Verwaltung der Lunchpaket-Fabrik an, um zu fragen, ob sie nicht einen Vorschuss haben konnte. Bis zur Überweisung ihres Lohns am Monatsende war es noch lange hin.
»Wir machen prinzipiell keine Ausnahmen«, sagte der Buchhalter kalt.
»Das weiß ich ja, aber sehen Sie, ich arbeite nun schon so lange in der Fabrik...«
»Ja, ich weiß. Trotzdem: Prinzip ist Prinzip.« Der Buchhalter war nicht zu erweichen. »Und noch etwas, Frau Azuma: Sie müssen in Zukunft einen Tag in der Woche freinehmen, es geht nicht anders, das Gewerbeaufsichtsamt besteht darauf.«
»Oh!« Yoshië ging derzeit täglich in die Fabrik, ohne einen einzigen Tag Pause, denn sie wollte sich keinen Tageslohn entgehen lassen.
Verächtlich schleuderte der Buchhalter ihr die Worte entgegen: »Achten Sie gefälligst darauf, auch zu Ihrem eigenen Besten. Sie bekommen doch sicher Sozialhilfe. Wenn Sie die Einkommensgrenze überschreiten, sieht es schlecht für Sie aus!«
Nun musste sie sich auch noch entschuldigen! Unter Verbeugungen legte Yoshië den Hörer auf. Jetzt blieb ihr nur noch Masako, an die sie sich wenden konnte. Sie hatte ihr schon mehrmals aus der Patsche geholfen.
»Ja?«, meldete sich eine leise Stimme. Masako selbst, die ein wenig verschlafen klang.
»Ich bin’s. Hab ich dich geweckt?«
»Ach, die Meisterin! Ja, aber das macht nichts.«
»Ich habe eine Bitte. Sag aber offen und ehrlich, wenn es dir nicht möglich ist, ja?«
»Aber sicher. Um was geht’s?«
Masako würde tatsächlich rundheraus ablehnen, dachte Yoshië und zögerte ein wenig. Masako hasste übertriebene Rücksichtnahme und Höflichkeitsfloskeln. In der Fabrik konnte sie sie manchmal immer noch mit ihrer Direktheit in Staunen versetzen.
»Könntest du mir Geld leihen?«
»Wie viel ungefähr?«
»Dreiundachtzigtausend Yen. Die Kosten für Mikis Klassenfahrt. Ich bin im Moment völlig blank.«
»Geht in Ordnung.«
Yoshië war froh, dass Masako, die mit Sicherheit nicht aus dem Vollen schöpfte, ihrer Bitte ohne viele Worte entsprochen hatte.
»Danke! Ich stehe in deiner Schuld. Du hast mir wirklich sehr geholfen!«
»Ich geh zur Bank und bring es heute Nacht mit.«
Yoshië atmete auf und ließ sich ins Sitzkissen zurückfallen. Sie fühlte sich miserabel, bei Masako Schulden machen zu müssen, aber sie war auch froh, eine solche Freundin zu haben.
Sie schreckte auf, als es an der Tür läutete. Den Kopf auf das Esstischchen gestützt, war sie wohl im Sitzen eingeschlafen. Sie öffnete, und Masako stand da, die Abendsonne im Rücken. Aus ihrem ungeschminkten Gesicht mit dem leicht dunklen Teint sah sie sie unverwandt an.
»Ich hab noch mal nachgedacht, Meisterin: In der Fabrik kann man das Bargeld ja nirgends hintun, deshalb
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