Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
unerbittlich näher rückte.
Damals im Büro des »Verbraucherzentrum Million« hatte Masako zwar großspurig ihr Maul aufgerissen, von wegen, sie würde schon dafür sorgen, dass Kuniko das Geld zurückzahlte, und wenn sie es ihr notfalls bei einem anderen Kredithai beschaffte, aber inzwischen schien sie sich keinen Pfifferling mehr darum zu scheren, in welch heikler Lage sich Kuniko befand. Und von dem Geld, das Yayoi ihr so hoch und heilig versprochen hatte, war bisher auch noch kein Yen aufgetaucht. Was für eine Unverschämtheit, dachte Kuniko, erst zwingen sie mich, bei dieser schrecklichen Sache mitzuhelfen, machen mich quasi zum Verbrecher, und nun stellt sich womöglich heraus, dass ich nicht einmal etwas davon habe, sondern nur mit leeren Versprechungen abgespeist werde!
Wütend fegte sie eine voluminöse Modezeitschrift vom Tisch. Sie schlug mit lautem Knall zu Boden, wobei die Hochglanzbeilage mit dem Nizza-Special herausfiel. Mit den Zehen blätterte Kuniko durch die Seiten traumhafter Modeanzeigen der berühmtesten Hersteller: Chanel, Gucci, Prada... Handtaschen, Schuhe, neue Herbstmode, Accessoires.
Die Zeitschrift hatte sie sich vom Müllsammelplatz der Mietskaserne
geholt. Sie war voller Flecken und Glasränder, aber daran durfte sie sich nicht stören – Hauptsache, sie war umsonst.
Das Zeitungsabonnement hatte sie gekündigt, und mit dem Auto fuhr sie auch nicht mehr, um keinen Sprit zu vergeuden. Kuniko, der außer den Boulevardmagazinen und Seifenopern im Fernsehen kein Vergnügen mehr geblieben war, freute sich inzwischen über jede weggeworfene Zeitschrift. Sie hatte überall herumtelefoniert, um herauszubekommen, wo Tetsuya steckte, aber niemand verriet ihr seinen Aufenthaltsort. Da sie im August in der Fabrik so oft blaugemacht hatte, waren ihre Einkünfte sogar noch geschrumpft, und gespart hatte sie null. Kuniko, der das Elend, sich absolut nichts mehr leisten zu können, schier unerträglich geworden war, brüllte auf wie ein wildes Tier.
Sie hatte Fachzeitschriften für Stellenanzeigen durchgesehen, um sich redlich um eine Tagesstelle zu bemühen, doch dabei hatte sie begreifen müssen, dass sie für keine der angebotenen Arbeiten einen Lohn in der Größenordnung erwarten konnte, die ausreichen würde, um ihre Schulden zu begleichen. Im Rotlichtmilieu wäre es als Frau vielleicht möglich, genug Geld zu verdienen, aber dem stand der Mangel an Selbstvertrauen in ihr Äußeres im Wege, den sie einfach nicht überwinden konnte. Da war es besser, in der Lunchpaket-Fabrik zu bleiben und weiter die Nachtschicht mit der relativ kurzen Arbeitszeit zu machen. Der starke Wunsch, reich zu sein, sich nach der neuesten Mode herauszuputzen und im Rampenlicht zu stehen, und das Minderwertigkeitsgefühl, sich am liebsten in der hintersten dunklen Ecke verkriechen zu wollen, wo sie niemand sehen konnte, führten in Kunikos Innerem eine Doppelexistenz wie die beiden Seiten einer Münze.
Ob sie nicht besser den Offenbarungseid leisten sollte? Für einen Augenblick zog sie diese letzte Möglichkeit in Erwägung, aber das würde vielleicht bedeuten, dass sie ihr Leben lang auf eine Kreditkarte verzichten musste. Dann wäre sie ja ständig gezwungen, mit dem bisschen Geld auszukommen, das da war – nein, danke! Das wäre für Kuniko, die sich schlecht bescheiden und die Befriedigung ihrer Wünsche partout nicht aufschieben konnte, kaum zu ertragen. Solange sie mit einer größeren Geldsumme von Yayoi rechnete, erschien ihr jeder Gedanke an solche Maßnahmen sowieso als reine Zeitverschwendung.
Kurz entschlossen rief Kuniko bei Yayoi an. Sie hatte schon des Öfteren daran gedacht, es aber bisher aus Furcht vor der Polizei, die sich womöglich immer noch dort aufhielt, nie gewagt. Darauf konnte sie nun keine Rücksicht mehr nehmen.
»Hallo? Kuniko Jōnouchi hier.«
»Oh!« Yayoi schien nicht gerade erfreut. Der Anruf war wohl nicht willkommen.
Sie macht ja nicht einmal Anstalten, mich zu begrüßen! Na, warte, dachte Kuniko erbost, dir werd ich’s zeigen. »Da scheinst du ja jetzt fein aus dem Schneider zu sein, wie ich letztens in der Zeitung gelesen habe!«
»Wieso, was meinst du damit?«
Yayoi stellte sich dumm. Vom anderen Ende der Leitung tönte der Lärm einer Zeichentrickserie im Fernsehen, begleitet von Kindergeschrei, zu Kuniko herüber. Dort schien es ja munter herzugehen, wo der Vater gerade auf so schreckliche Weise sein Leben lassen musste. Kunikos Zorn machte nicht einmal vor den
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