Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Chén.
»Ach, hier steckst du also!«
Chén setzte sein zuckersüßes Lächeln auf; es war nur nicht mehr so unterwürfig wie früher. »Satake-san! Wir haben uns lange nicht gesehen. Sind Sie heute als Gast hier?«, fragte er.
»Natürlich, als was denn sonst!« Satake lächelte ausdruckslos.
»Schwebt Ihnen ein bestimmtes Mädchen vor?«
»Wie ich gehört habe, soll Anna jetzt hier arbeiten.«
Chén ging nach hinten, um sich zu erkundigen, ob sie frei war, was Satake Gelegenheit gab, sich im »Mato« umzusehen. Es war kleiner als das »Mika«, aber sehr elegant eingerichtet, im chinesischen Stil mit Möbeln aus rotem Sandelholz.
»Anna-san wäre für Sie zu reservieren. Aber sie nennt sich jetzt anders.«
»Aha. Wie heißt sie denn jetzt?«
»Mei-ran«, klärte ihn Chén auf, »Schöne Orchidee.«
Ein Allerweltsname in diesem Metier, bedauerte Satake, sagte aber nichts dazu. »Gut. Dann möchte ich bitte Mei-ran.«
Während Satake Chén ins Clubinnere folgte, blickte die in einen Kimono gekleidete Mama-san, die er vom Sehen kannte, auf und schaute ihn erstaunt an: »Ah, Satake-san! Das ist ja eine Überraschung – wie lange haben wir uns nicht gesehen? Ist drüben wieder alles in Ordnung?«
»Es gibt kein Drüben mehr, wie Sie wissen.«
Die hiesige Mama-san war Japanerin. »Ist Lì-huá denn noch nicht wieder aus Taiwan zurück?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Ja, hat sie denn etwas Schlimmes zu befürchten, wenn sie wiederkommt?«
Das war ein verdeckter Affront gegen ihn, da er verdächtigt wurde, mit der chinesischen Mafia zu tun zu haben, das spürte er genau. Aber er schwieg dazu und sagte nur: »Tja, wer weiß?«
Die Mama-san, die bemerkt zu haben schien, wie Satake erstarrt war, versuchte hastig zu vermitteln: »Das war aber auch ein schreckliches Unglück, was da passiert ist, nicht wahr?«
Satake lächelte unverbindlich, aber mit ihrem misstrauischen Blick, so, als betrachte sie ein verdächtiges Subjekt, machte sie ihn rasend. Ganz hinten in der Ecke saß eine schöne Frau, die vom Profil her nach Anna aussah. Sie schaute sich nicht einmal zu ihm um.
Satake setzte sich an den Platz, den Chén ihm zuwies. Obwohl hinten alles frei war, hatte er ihn an einen ungemütlichen, engen Tisch in der Mitte geführt. Ein Gast grölte in das Karaoke-Mikrofon, und sobald er mit einem Lied fertig war, klatschten die Hostessen reflexartig in die Hände, wie pawlowsche Hunde. Abgeschreckt von dem Trubel um ihn herum, rutschte Satake tiefer in seinen Sessel. Ein Mädchen, das kaum ein paar Brocken Japanisch
sprach und dessen einziger Vorzug seine Jugend zu sein schien, kam zu ihm an den Tisch und lachte gekünstelt. Bei dem Krach war es sowieso zwecklos, ein Gespräch in Gang zu bringen. Satake leerte schweigend ein paar Gläser kalten Oolong-Tee hintereinanderweg.
»Wo bleibt Anna – nein, Mei-ran?«, fragte er das Mädchen schließlich, worauf es beleidigt verschwand. Danach saß Satake noch beinahe eine halbe Stunde alleine da. Irgendwann – vielleicht, weil ihm die Tatsache, dass er sich wieder in Freiheit befand, ein Gefühl von Sicherheit gab – war er eingedöst. Es konnten höchstens fünf Minuten gewesen sein, aber es kam ihm wie mehrere Stunden Schlaf vor. Er war zwar nicht wirklich zur Ruhe gekommen, aber er fühlte sich fürs Erste erleichtert und körperlich entspannt.
Der Duft von Parfüm stieg ihm in die Nase, und Satake schlug die Augen auf: Plötzlich saß Anna vor ihm. Sie trug einen schneeweißen Hosenanzug, der sich wunderbar von ihrer sonnengebräunten Haut absetzte.
»Guten Abend, Satake-san.« Sie nannte ihn nicht mehr »O-nii-chan«.
»Oh, Anna. Wie geht es dir, gut?«
»Ja, fabelhaft«, erwiderte Anna freudestrahlend, aber Satake merkte, dass sie ihm nicht wirklich traute und auf der Hut blieb.
»Du bist ja ganz schön braun geworden.«
»Ja, weil ich jeden Tag im Freibad war.«
Nachdem sie das geantwortet hatte, verfiel Anna für längere Zeit in Schweigen, als würde sie an den Tag im Freibad und den Streit mit Satake zurückdenken, mit dem das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Sie griff nach der Scotch-Flasche, auf die irgendjemand vom Club ohne zu fragen den Namen »Satake« geschrieben hatte, und mixte mit geübten Bewegungen zwei dünne Whiskey-Soda. Dann stellte sie eines der Gläser vor ihn hin, wie um es noch einmal zu versuchen, denn sie wusste genau, dass er nicht trank. Satake sah sie an.
»Na, wie läuft es in dem Laden hier?«
»Wunderbar. Diese
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