Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
vorübergezogen war, hatte der Himmel seinen Sommerglanz verloren, so als hätte man ihn mit der Scheuerbürste bearbeitet, und dahinter kam der etwas mattere Herbsthimmel zum Vorschein.
Mit dem Sinken der Temperaturen beruhigten sich allmählich auch all die hitzigen Gefühle in Yayoi – Hass und Reue legten sich, die Ängste und die Hoffnungen schwanden. Sie war nun mit ihren beiden Kindern allein. Sie gewöhnte sich an die veränderten Gegebenheiten, die eine neue Ordnung erforderten, das Leben normalisierte sich, und der Alltag kehrte zurück. Doch die Nachbarn, die sich Yayoi zunächst aus Neugier und Mitleid genähert hatten, beobachteten sie nun, da sie sich in eine allein erziehende Mutter verwandelt hatte, die energisch und selbstbewusst ihre Familie vertrat, lieber aus der Ferne. So vermied es Yayoi mehr und mehr, das Haus zu verlassen, außer, wenn sie zur Fabrik gehen oder die Kinder zum Hort bringen und von dort abholen musste. Sie fühlte sich seltsam isoliert.
Hatte sie sich denn wirklich so sehr verändert? Sie hatte sich doch bloß die Haare kurz schneiden lassen! Sie versuchte doch nur, den Kindern den Vater zu ersetzen, weil Kenji nicht mehr da war! Yayoi war noch nicht klar geworden, dass sie sich langsam von innen heraus verwandelte, seitdem sie die äußere Fessel Kenji abgeworfen und sich durch den Mord an ihm eine neue, innere Fessel auferlegt hatte.
Eines Morgens, als sie mit dem Fegen des Müllsammelplatzes der Nachbarschaft an der Reihe war, verließ Yayoi, mit Besen und Kehrblech bewaffnet, das Haus. Der Müllsammelplatz ihres Blocks befand sich bei dem Strommast hinter der Betonmauer an der Ecke der Straße. Dort, wo sich ihre Katze Milky am Morgen nach dem Mord an Kenji verkrochen hatte.
Yayoi schaute nach oben auf die Mauer, wo die streunenden Katzen aus der Umgebung für gewöhnlich auf Essensreste im Hausmüll lauerten. Dort hockten auch jetzt eine Katze mit schmuddeligem weißem Fell, die wie Milky aussah, und ein großer, braun getigerter Kater, aber beim Anblick von Yayoi suchten
beide sofort das Weite. Yayoi, die die Katze längst aufgegeben hatte, kümmerte das nicht mehr, und sie machte sich an die Arbeit.
Sie fegte die verstreuten Abfallreste zusammen, die die Müllabfuhr zurückgelassen hatte, kehrte alles aufs Kehrblech und schüttete es in einen Plastikbeutel. Dabei hatte sie das Gefühl, dass jeder ihrer Handgriffe heimlich von böswilligen Augen aus den Fenstern um sie herum beobachtet würde, und diese Vorstellung machte sie nervös. Wie Rettung in der Not hörte sie in dem Moment die klare Stimme einer jungen Frau:
»Entschuldigen Sie bitte...«
Yayoi hob den Kopf, und die Frau sah ihr, scheinbar angenehm überrascht, ins Gesicht. In ihren Augen lag nichts als reine Bewunderung. Ja, wusste sie denn nicht...? Yayoi versuchte sich zu besinnen, ob sie die Frau als Bewohnerin dieses Bezirks kannte oder nicht. Sie mochte um die dreißig sein, hatte glattes langes Haar und war geschminkt wie eine Büroangestellte, aber es umgab sie etwas Weltfremdes, Schüchternes. Yayoi fand sie auf den ersten Blick sympathisch.
»Sind Sie neu hier?«
»Ja, ich bin gerade in das Mietshaus da drüben gezogen«, antwortete die Frau und wandte sich kurz zu dem alten, verkommenen Apartmenthaus hinter sich um. »Bringt man hier seinen Müll hin?«
»Ja. Die Wochentage sind da drüben angeschlagen«, sagte Yayoi und wies auf das Metallschild am Strommast.
»Ah, vielen Dank!« Die Frau notierte sich die Abholtage genau. Sie wirkte, als hätte sie sich zum Ausgehen fertig gemacht und würde gleich im Anschluss zur Arbeit gehen, doch ihre Kleidung war schlicht: Sie trug eine langärmelige weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock. Yayoi fegte den Platz zu Ende und wollte mit dem Müllbeutel in der Hand heimkehren, als die Frau, so als hätte sie darauf gewartet, fragte: »Machen Sie hier immer sauber?«
»Nein, das geht reihum. Irgendwann kommen Sie auch dran, das steht immer im Umlauf, der weitergegeben wird.«
»Ach so. Vielen, vielen Dank auch!«
»Falls Sie es schwer einrichten können, weil Sie zur Arbeit müssen, kann ich das gerne für Sie übernehmen.«
»Das ist aber freundlich von Ihnen!«, bedankte sich die Frau überrascht. »Doch es wird nicht nötig sein, ich bin nicht berufstätig.«
»Dann sind Sie also Hausfrau? Verzeihen Sie bitte.«
»Nein, nein, ich bin allein stehend. Obwohl ich schon so alt bin.« Die Frau lachte, wobei sich zarte Fältchen um ihre
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