Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
unregelmäßig schlief und sich so nie ganz von ihrer Erschöpfung erholen konnte. Sie versank in Schlaf, als zöge die Schwerkraft sie hinab. Und dann hatte sie einen Traum.
Sie befand sich in dem alten, blassgrün vertäfelten Fahrstuhl der Spar- und Darlehenskasse Tanashi und fuhr langsam nach unten. Die vielen Kratzer auf der Vertäfelung kamen von den Geldtransportern, die man achtlos hinein- und herausgeschoben hatte. Wie viele schwere Beutel voller Kleingeld sie hier schon herausgeschleppt hatte, konnte sie gar nicht mehr ermessen. In der ersten Etage hielt der Aufzug. Dort befand sich die Darlehensabteilung, in der Masako beschäftigt gewesen war. Ihr Arbeitsplatz, an dem sie sich immer noch mit verbundenen Augen zurechtfinden würde. Aber was hatte sie hier noch zu suchen? Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich, und Masako blickte in den menschenleeren, dunklen Büroraum, während sie schon auf den Knopf »Türen schließen« drückte. Kurz bevor sie zugingen, sprang ein Mann herein.
Es war Kenji. Aber er war doch tot! Masako stockte der Atem. Kenji trug ein weißes Hemd, dazu eine schlichte Krawatte und eine graue Hose. Wie an dem Tag, an dem er ermordet worden war. Er nickte ihr höflich zu, wandte ihr dann den Rücken zu und blickte auf die Aufzugtür. Masako betrachtete seinen Nacken, den die zu lang geratenen Haare ein wenig bedeckten, und wich zurück. Denn sie hatte unwillkürlich nach der Wunde gesucht, die der Schnitt, mit dem sie ihm eigenhändig den Kopf abgetrennt hatte, doch zurückgelassen haben musste.
Unerträglich langsam fuhr der Aufzug ins Erdgeschoss hinab. Die Türen gingen auf, und Kenji verschwand ins Dunkel, irgendwo in Richtung der Kundenschalter. Masako, die allein in der Kabine zurückblieb, spürte plötzlich eine eisige Kälte, und sie zögerte, ob sie ihm dorthin folgen sollte oder nicht.
In dem Moment, als sie entschlossen aus dem Fahrstuhl trat, spürte sie, wie jemand aus der Dunkelheit auf sie zustürzte. Bevor
sie noch fliehen konnte, hatte dieser Jemand sie von hinten gepackt und hielt sie fest. Eisern umklammerten sie seine langen Arme, so dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Sie wollte um Hilfe rufen, aber die Stimme versagte ihr. Der Mann wollte sie erwürgen. Masako wand sich in dem Versuch zu entkommen, aber sie bekam ihre Glieder nicht frei. Die hilflose Ungeduld verdoppelte ihre Angst, und im Traum brach ihr der kalte Schweiß aus allen Poren. Schließlich gelang es dem Mann, seine Hände um ihren Hals zu legen. Masako erstarrte vor Angst. Aber die Wärme seiner Hände, die immer fester zudrückten, sein keuchender Atem, der ihren Nacken streifte, weckten in Masako allmählich das dunkle Verlangen, sich einfach der übermächtigen Kraft hinzugeben und erwürgen zu lassen. Im selben Augenblick, als befände sie sich plötzlich im schwerelosen Raum, war die Angst verschwunden, und stattdessen überkam sie ein unglaubliches Gefühl der Lust. Vor Überraschung und Freude entfuhr ihr ein Schrei.
Masako wachte auf. Sie drehte sich auf den Rücken und fasste sich ans Herz. Es klopfte immer noch wie wild. Sie hatte zwar schon öfter feuchte Träume gehabt, aber Lust, die mit Angst gekoppelt war, empfand sie zum ersten Mal. Masako blieb im Dunkeln liegen und spürte dem Traum noch einmal nach. Eine Zeit lang war sie unfähig, sich zu bewegen, da sie zu entdecken glaubte, was für Abgründe sich womöglich tief in ihrem Herzen auftaten.
Sie versuchte zu ergründen, wer der Mann im Traum überhaupt gewesen sein könnte, während sie sich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, als seine Arme ihren Körper umklammert hielten. Kenji war es nicht, denn er war ihr ja im Traum als Geist erschienen, der sie in die Angst hineingelockt hatte. Yoshiki auch nicht. Ihr Mann war kein einziges Mal brutal zu ihr gewesen. Und Kazuos Arme hatten sich anders angefühlt. Dann blieb nur noch der unsichtbare Fremde, der ihr in letzter Zeit Furcht einflößte, was sich vielleicht in diesem Traum ausgedrückt hatte. Aber dass extreme Angst mit sexueller Lust verbunden sein konnte! Das längst vergessen geglaubte Gefühl war so überwältigend, dass sie für eine Weile darin versank.
Masako stand auf und machte das Licht im Schlafzimmer an. Sie zog die Vorhänge zu und setzte sich an den Toilettentisch.
Als sie in den Spiegel schaute, sah sie eine Frau mit im Schein der Neonlampe schlechtem Teint, die ihr mürrisch entgegenstarrte. Ihr Gesicht hatte sich seit der
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