Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
genug. Mach, was du für richtig hältst. Wenn du weiter zur Schule willst, tu das, wenn du hier ausziehen möchtest, auch gut. Es ist deine Entscheidung, mach das mit dir aus, und gib mir Bescheid, was du zu tun gedenkst.«
Masako starrte noch eine ganze Weile auf die hohlen Wangen ihres Sohnes, aber er gab keine Antwort, nur seine Lippen zitterten leicht. Als sie sich schließlich auf dem Absatz umdrehte, zischte er ihr mit einer nach überstandenem Stimmbruch fremd klingenden Stimme hinterher: »Schleim dich bloß nicht an, Alte!«
Es war das zweite Mal in diesem Jahr, dass sie Nobukis Stimme hörte, die sich inzwischen weiter in die eines erwachsenen Mannes verwandelt hatte. Masako drehte sich um und schaute ihrem Sohn ins Gesicht. Tränen standen ihm in den Augen. Als sie ihn ansprechen wollte, zog er wütend die Schultern hoch und rannte in den ersten Stock hinauf. Es sprengte ihr fast die Brust. Aber Masako wollte den Weg zurück nicht finden.
Nach langer Zeit wieder fuhr Masako auf dem Weg zur Arbeit bei Yayoi vorbei.
Welke Blätter segelten mit angenehmem Rascheln gegen die Windschutzscheibe. Ein kühler Wind war aufgekommen. Ihr wurde kalt, und als sie gerade das Fenster hochkurbeln wollte, verirrte sich von irgendwoher eine einsame Fliege ins düstere Wageninnere.
Das erinnerte sie an die Nacht, als sie von Yayois Notlage erfahren und während der Fahrt hier im Auto hin- und herüberlegt hatte, ob sie ihr helfen sollte oder nicht. Durch das offene Wagenfenster war der Duft blühender Gardenien hereingeschwappt und hatte sich sofort wieder verflüchtigt. Das war erst diesen Sommer gewesen, aber es erschien ihr wie vor vielen, vielen Jahren.
Aus dem stockdunklen hinteren Teil des Wagens hörte sie ein Geräusch. Obwohl sie wusste, dass es nur der Straßenatlas gewesen sein konnte, der vom Rücksitz gerutscht war, kam es ihr unweigerlich so vor, als ob Kenji sich mit ihr auf den Weg zu Yayoi gemacht hätte.
»Willst du mitfahren?«, fragte sie ihn ins Dunkel hinein. In ihren Träumen war ihr Kenji längst vertraut geworden. Masako wollte sich die Frau näher ansehen, die sich Yōko Morisaki nannte und zu Yayoi ins Haus kam, um auf die Kinder aufzupassen.
Wie damals, als sie die Leiche abgeholt hatte, fuhr Masako in die kleine Gasse hinein bis vor Yayois Haus. Sie klingelte. Durch die zugezogenen Vorhänge des Wohnzimmerfensters drang warmes, gelbes Licht. Mit einer Stimme, der man den Schrecken anhörte, meldete sich Yayoi an der Gegensprechanlage.
»Ich bin’s, Masako Katori. Entschuldige, dass ich so spät noch vorbeischaue.«
Yayoi schien überrascht zu sein. Sofort hörte man ihre Schritte auf dem Flur näher kommen. »Was ist los? Wieso kommst du um diese Zeit?«, sagte sie, als sie die Haustür öffnete. Anscheinend war sie gerade im Bad gewesen, denn nasse Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn.
»Kann ich reinkommen?« Masako trat in den engen Eingang und zog die Haustür hinter sich zu. Ihre Augen wanderten reflexartig auf den Stufenabsatz zum Wohnbereich – der Platz, an dem Kenji gestorben war. Yayoi verstand die Bedeutung ihres Blicks und schlug hastig die Augen nieder.
»Aber ich kann jetzt noch nicht los.«
»Das weiß ich. Es ist auch erst zehn. Ich muss nur kurz mit dir reden«, sagte Masako, und Yayoi machte ein Gesicht, als rüste sie sich zum Kampf; wahrscheinlich fühlte sie sich an das Wortgefecht in der Fabrik erinnert.
»Worüber denn?«
»Wann kommt diese Frau Morisaki?« Masako spitzte die Ohren nach irgendwelchen Geräuschen aus dem Wohnzimmer, aber außer den Fernsehnachrichten war nichts zu hören, also schliefen die Kinder vielleicht schon.
»Nun ja, das...« Yayois Miene verfinsterte sich. »Sie kommt nicht mehr.«
»Wieso?« Unsagbare Beklommenheit erfasste Masakos Brust.
»Vor etwa einer Woche kam sie plötzlich und sagte, sie müsse unerwartet nach Hause zurück, in ihr Heimatdorf. Ich war ganz perplex und habe versucht, sie zurückzuhalten, aber sie meinte, es ginge nun mal nicht anders. Die Kinder waren natürlich enttäuscht, sie selbst war auch den Tränen nahe...«
»Wo ist denn ihr Heimatdorf?«
»Das wollte sie ja eben nicht sagen.« Die Verletzung stand Yayoi im Gesicht geschrieben, und sie tat nichts, um sie zu verbergen. »Dabei dachte ich, wir wären so gute Freundinnen geworden! Sie würde sich wieder melden, hat sie nur gesagt.«
»Wie kam es denn eigentlich dazu, dass sie hier ein- und ausging, Yama-chan?«
Auf Masakos Frage hin begann
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