Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Mit Haarnetz und Haube für den Kopf in der Hand gingen Yoshië und Kuniko gemeinsam hinaus. Es war höchste Zeit für die Stechuhr. Zwischen 23 Uhr 45 und 24 Uhr musste man die Stechkarte stempeln lassen und unten am Fabrikeingang auf Einlass warten, das war Vorschrift.
Masako fand ihren Bügel, auf dem eine Art kurzer, weißer Kittel mit Reißverschluss vorne und eine Arbeitshose mit Gummizug im Bund hingen. Rasch zog sie sich den Kittel über das T-Shirt, die Jeans aus und die Hose an, immer auf der Hut vor eventuellen Männerblicken aus dem Aufenthaltsraum. Hier gab es keine getrennten Umkleidekabinen für Männer und Frauen, und obwohl sie seit fast zwei Jahren in der Fabrik arbeitete, hatte sie sich immer noch nicht an diese mangelnde Achtung der Privatsphäre gewöhnt.
Sie streifte das schwarze Netz über die von der Spange gehaltenen
Haare und setzte die von allen nur »Kochmützchen« genannte Haube aus Zellstoff auf, die der Form nach einer Duschkappe glich. Als sie mit der langen Schürze aus durchsichtigem Vinyl in der Hand aus dem Umkleideraum kam, saß Yayoi immer noch apathisch am selben Fleck.
»Schnell, Yama-chan, komm!«
Als sie sah, wie Yayoi sich schwerfällig in Bewegung setzte, erfasste sie weniger Ungeduld als eine diffuse Sorge. Fast alle Arbeiter hatten den Aufenthaltsraum bereits verlassen. Nur noch ein paar brasilianische Männer saßen müde, die langen Beine ausgestreckt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt da und rauchten.
Einer von ihnen hob die Hand, einen kurzen Zigarettenstummel zwischen den Fingern, und grüßte sie: »Guten Morgen!« Masako nickte ihm mit einem kleinen Lächeln zu. Auf seinem Namensschild an der Brust stand zwar der japanische Name »Kazuo MIYAMORI«, aber seine dunkle Hautfarbe und das längliche Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen gaben ihn unweigerlich als Ausländer zu erkennen. Sicher war Kazuo für die schwere Arbeit zuständig, den gekochten weißen Reis auf Transportwagen heranzufahren und in die automatische Abfüllmaschine zu füllen.
»Guten Morgen!« Kazuo grüßte auch Yayoi, doch die war in Gedanken ganz woanders und wandte sich ihm nicht einmal zu. Enttäuschung grub sich in Kazuos Gesicht.
Nach dem Gang zur Toilette setzten sie den Mundschutz auf und banden die Schürzen um. Dann schrubbten sie sich mit einer Bürste Hände und Arme ab und tauchten sie in Desinfektionsmittel. Sie stempelten ihre Stechkarten ab und schlüpften in die weißen Arbeitsschuhe. Bevor es die Treppe zur Fabrik hinunterging, passierten sie den zweiten Hygiene-Check. Wieder fuhr Komada ihnen mit der Fusselrolle über den Rücken und prüfte mit strengen Augen Hände, Finger und Nägel.
»Verletzungen, Kratzer, Wunden?«
Wenn man auch nur den kleinsten Schnitt an den Händen hatte, durfte man die Lebensmittel nicht berühren. Die beiden Frauen zeigten ihre Hände vor und passierten die Kontrolle. Offenbar ohne es zu merken, wankte Yayoi beim Gehen.
»Schaffst du die Arbeit heute wirklich?«
»Es wird schon irgendwie gehen.«
»Was ist mit den Kindern?«
Sie vermied eine Antwort.
Masako schaute Yayoi noch einmal forschend ins Gesicht. Haube und Mundschutz gaben nur die kraftlosen Augen frei. Yayoi schien die prüfenden Blicke nicht einmal zu bemerken.
Als sie zur Fabrik im Erdgeschoss hinabstiegen, roch es wegen der extrem kalten Luft und den verschiedenen Essensgerüchen, als hätte man einen Kühlschrank aufgemacht. Die Kälte kroch einem über den Betonboden entgegen. Ein Arbeitsplatz, an dem man selbst im Sommer fror.
Am Eingang zur Fabrik reihten sie sich ans Ende der Schlange von Arbeitern ein, die darauf warteten, dass das Tor geöffnet wurde. Yoshië und Kuniko, die ganz vorne standen, drehten sich um und gaben ihnen mit den Augen Zeichen. Die vier Frauen arbeiteten immer zusammen und halfen sich gegenseitig, denn nur so war diese schwere Arbeit zu schaffen.
Das Tor ging auf. Die Arbeiter strömten hinein und wuschen und desinfizierten sich noch einmal Hände und Unterarme. Auch die bis zu den Knöcheln reichende Schürze musste mit Desinfektionsmittel abgerieben werden. Als die sich nur schleppend bewegende Yayoi und Masako, die auf sie wartete, das Händewaschen und -desinfizieren endlich erledigt hatten und vor das Fließband traten, hatten die anderen bereits mit den Arbeitsvorbereitungen begonnen.
»Schnell! Ihr seid spät dran!«, fuhr Yoshië Masako ungeduldig an. »Nakayama ist schon unterwegs!«
Nakayama war der verantwortliche
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