Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
einmal ein Visum brauchten, um nach Japan einzureisen, und so viele Jahre dort arbeiten konnten, wie sie wollten. Außerdem sei in Japan gerade Hochkonjunktur, es mangele an Arbeitskräften, und japanischstämmige Brasilianer seien sehr begehrt.
Er fragte einen Bekannten, der ebenfalls ein japanisches Elternteil hatte, ob das auch stimmte, und der antwortete ihm, es gäbe auf der Welt kein reicheres Land als Japan. In den Läden gäbe es alles zu kaufen, was das Herz begehrte, und ein Wochenlohn in Japan wäre annähernd so hoch wie sein ganzes Monatsgehalt in der Druckerei. Kazuo war überwältigt und stolz, japanisches Blut in den Adern zu haben. Und er wünschte sich, irgendwann einmal die Heimat seines Vaters mit eigenen Augen zu sehen.
Einige Jahre später fuhr der Bekannte, mit dem er sich über Japan unterhalten hatte, in einem nagelneuen Auto bei ihm vor. Er sei gerade aus Japan zurückgekehrt, wo er zwei Jahre in einem
Automobilwerk gearbeitet habe, um sich seinen Traum von einem eigenen Auto zu erfüllen. Kazuo beneidete ihn von ganzem Herzen. In Brasilien herrschte eine nicht enden wollende Flaute. Von dem geringen Lohn, den er in der Druckerei verdiente, würde er sich nie im Leben ein Auto leisten können; es würde ein Traum in unerreichbar weiter Ferne bleiben. Kazuo fasste den Entschluss, nach Japan zu gehen. Wenn er genügsam blieb und dort zwei Jahre anständig arbeitete, würde er sich ein Auto kaufen können. Und wenn er noch mehr Geduld aufbrächte und fleißig sparte, würde er sich sogar ein Haus leisten können. Außerdem wollte er das Land seines Vaters kennen lernen.
Kazuo eröffnete seiner Mutter, dass er nach Japan gehen wollte. Im Stillen hatte er schon befürchtet, sie würde dagegen sein, doch wider Erwarten befürwortete sie seinen Plan vehement: Mach das, mein Junge, unbedingt. Auch wenn du kein Japanisch kannst und sie dort eine ganz andere Kultur haben – dein Blut ist zur Hälfte japanisch, also bist du ein patrício, ein Landsmann, und patrícios behandelt man überall gut, das gebieten Anstand und Menschlichkeit.
Er war zwar japanischer Abstammung, aber die Kinder erfolgreicher Einwanderer aus Japan hatten die Universität besucht, eine teure Ausbildung genossen und stiegen auch in Brasilien zur obersten Elite auf. Bei ihm war das anders. Er war nur der Sohn eines kleinen Barbiers aus der Unterstadt. Deshalb musste er in das Land seines Vaters gehen, sparen und mit diesem Geld nach Brasilien zurückkehren, um dann hier seinen Weg zu machen. Das würde ohnehin besser zu dem Sohn eines Mannes wie seinem Vater passen, der so voller Unabhängigkeitsgeist gewesen war.
Kazuo kündigte also in der Druckerei, wo er sechs Jahre gearbeitet hatte, und landete schließlich – es war jetzt ein halbes Jahr her – auf dem Flughafen in Narita. Seine Rührung kannte keine Grenzen, als er an seinen Vater dachte, der mit neunzehn mutterseelenallein nach Brasilien ausgewandert war. Er selbst war schon fünfundzwanzig und nur als Gastarbeiter hier, der sich eine Frist von zwei Jahren gesetzt hatte.
Doch die Menschen im Heimatland seines Vaters betrachteten Kazuo, der doch dessen Blut in den Adern hatte, keineswegs als ihren patrício. Auf dem Flughafen, in der Stadt – jedes Mal,
wenn er wieder ein Augenpaar auf sich ruhen fühlte, das ihn als gaijin, als Ausländer, abstempelte, hätte er schreien mögen: »Ich bin doch zur Hälfte einer von euch! Ich besitze die japanische Staatsbürgerschaft!«
Aber die Japaner würden jemanden, der andere Gesichtszüge hatte als sie, der kein Japanisch sprach, nie und nimmer als einen der ihren anerkennen. Kazuo stellte fest, dass Japaner letztendlich nach dem Äußeren urteilten. Überhaupt war das patrício -Bewusstsein bei den Menschen dieses Landes nur schwach ausgeprägt. Obwohl sich der Begriff des Landsmanns doch eher auf metaphysischer Ebene definierte, war diese Erkenntnis hier so gut wie nicht vorhanden. Kazuo, der einsehen musste, dass er allein aufgrund seines Gesichts und seines Körpers auf ewig ein gaijin bleiben würde, war von Japan enttäuscht. Auch die Arbeit in der Lunchpaket-Fabrik war im Vergleich zu der in Brasilien stupide und hart, sie erstickte jede Motivation und Begeisterung.
Deshalb hatte Kazuo beschlossen, die Tage in Japan als Prüfung zu betrachten. Als Prüfung, die er bestand, wenn er zwei Jahre lang durchhielt und ordentlich für ein Auto sparte. Doch er hatte eine andere Auffassung davon als seine Mutter, die eine
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