Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
auch nur anzuhören, er schaffte es nicht einmal, ihr glaubhaft zu versichern, dass er nicht der Grabscher war.
Aber war das verwunderlich? Wenn er sich vorstellte, seiner Freundin oder seiner Mutter wäre so etwas passiert – er würde doch selbst nicht eher ruhen, bis er den Verantwortlichen halb tot geprügelt hätte! Er hatte große Schuld auf sich geladen. Dafür legte er sich selbst die Buße auf, die Frau so lange um Verzeihung zu bitten, bis sie seine Entschuldigung annahm. Eine neue, schwere Prüfung. Deshalb wartete er nun schon seit abends um neun, der verabredeten Zeit, reglos hier im hohen Gras. Sie würde vielleicht nicht kommen, aber dann hätte er wenigstens sein Versprechen gehalten.
Da hörte er vom Parkplatz her Schritte. Kazuo schrak zusammen und duckte sich. Die Gestalt einer großen Frau kam näher, genau auf ihn zu. Sie ist es!, dachte Kazuo, während er ihr aus dem Gebüsch entgegenspähte, und sein Herz tat einen kleinen Hüpfer. Er dachte schon, sie würde einfach vorübergehen, doch die Frau blieb genau vor dem Dickicht aus Wiesengras stehen, in dem er sich versteckt hielt. Ob sie vielleicht doch noch zu ihrer Verabredung kommen wollte?
Aber sofort darauf musste er erkennen, dass diese freudige Annahme nur seinem süßen Wunschdenken entsprungen war. Ohne das Gebüsch, in dem Kazuo sich verborgen hielt, auch nur eines Blickes zu würdigen, holte die Frau etwas aus ihrer Tasche und warf es durch eine Ritze in der Betondecke des Kanals. Kazuo konnte hören, dass es sich um etwas Metallenes handeln musste, denn neben dem Platschen des Wassers vernahm er ein klirrendes Geräusch, mit dem der Gegenstand auf dem Grund aufschlug. Merkwürdig, wunderte sich Kazuo. Ob sie ihn wohl an der Nase herumführen wollte, weil sie wusste, dass er sich hier versteckt hielt? Nein, sie hatte ganz bestimmt nichts von ihm bemerkt. Morgen früh, wenn es hell war, würde er in aller Ruhe nachsehen, was sie da im Abwasserkanal hatte verschwinden lassen.
Als die Frau aus seinem Blickfeld verschwunden war, streckte Kazuo seine eingeschlafenen Beine aus und stand auf. Mit der erhöhten Blutzirkulation fingen die Mückenstiche unerträglich zu jucken an. Kratzend bemühte er sich, in der Dunkelheit die Zeiger seiner Armbanduhr auszumachen. Es war halb zwölf – auch für ihn allmählich Zeit, zur Fabrik zu gehen.
Wenn er daran dachte, dass die Frau in derselben Schicht mit ihm arbeitete, erfasste ihn eine Mischung aus schüchterner Nervosität und froher Erwartung. Zum ersten Mal in der trüben, freudlosen Zeit, die er als Prüfung ansah, hatte Kazuo das Gefühl, lebendig zu sein.
Er betrat den Aufenthaltsraum. Sofort stach ihm die Frau ins Auge, denn sie stand mit der älteren Frau, mit der sie immer zusammen war, vor dem Getränkeautomaten direkt am Eingang. Die beiden waren mit gedämpften Stimmen in ein Gespräch vertieft.
Über der Jeans trug sie ein großes, verwaschenes Dungaree-Shirt und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. In dieser legeren Kleidung sah sie eigentlich aus wie immer, trotzdem war Kazuo verblüfft, denn sie machte einen völlig veränderten Eindruck als noch am frühen Morgen nach der Schicht. Verwundert starrte er in ihr Gesicht. Die Frau sah ihn ebenfalls an. Kazuo wich vor ihrem scharfen Blick zurück, brachte aber dann doch noch mit knapper Not einen Gruß zustande: »Guten Morgen!«
Die Frau erwiderte nichts, sondern ignorierte ihn. Aber ihre kleine, ältere Kollegin lächelte ihn an und nickte ihm zu. Dass sie von den anderen »Meisterin« genannt wurde, weil sie allen hier in Erfahrung und Arbeitsleistung haushoch überlegen war, hatte sich auch unter den Brasilianern herumgesprochen.
Kazuo hätte gerne weitergeredet, doch während er in seinem begrenzten japanischen Wortschatz noch nach etwas Passendem kramte, waren die beiden Frauen längst in Richtung Umkleideraum verschwunden. Enttäuscht folgte Kazuo ihnen dorthin, suchte den Bügel mit seiner Arbeitskleidung heraus und zog sich rasch um. Dann setzte er sich unauffällig zu den anderen in die gewohnheitsmäßig von brasilianischen Arbeitern okkupierte Ecke des Aufenthaltsraums, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und spähte immer wieder verstohlen zur Frauenseite des Umkleideraums hinüber, wobei ihm sein Herzklopfen schwer zu schaffen machte.
Der Vorhang zum Umkleideraum war nie ganz zugezogen, und so konnte man den Frauen zwischen den Bügeln mit Arbeitsanzügen und Straßenkleidung beinahe
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