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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natsuo Kirino
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unter.

7
    Überall um ihn herum zirpten die Grillen. Ein satter, behäbiger Ton, der einen sofort an das vom Nachttau feuchte Gras denken ließ. In São Paulo war das anders. São Paulo war heiß und trocken, und im Sommer machten die Grillen einen wunderschönen, hellen Ton, wie Glöckchen, die im Wind bimmelten.
    Kazuo Miyamori hockte im hohen Wiesengras und hatte die Arme um die Knie geschlungen. Ein paar lästige Streifenmücken schwirrten seit längerem um ihn herum und wollten ihn nicht in Ruhe lassen. Er wusste nicht, wie oft sie ihn schon in die nackten Arme gestochen hatten, die sein T-Shirt freigab, aber er durfte sich nicht bewegen – so lautete die Prüfung, die er sich auferlegt hatte. Er dachte sich immer irgendwelche Prüfungen aus, die er bestehen musste, das war seine Art, sich über Wasser zu halten. Denn er
glaubte ein Mensch zu sein, der bald verloren wäre, wenn er sich nicht ständig auf die Probe stellte.
    Als er in die Dunkelheit hineinlauschte, konnte er neben dem Zirpen der Grillen noch das entfernte Geräusch von fließendem Wasser vernehmen. Kein leises Plätschern, auch kein dröhnendes Rauschen, sondern ein träges Gluckern, das schlammige Dickflüssigkeit verhieß. Kazuo wusste, dass es sich um das unerträglich stinkende, verfaulte Abwasser des unterirdischen Kanals handelte. Erstaunlich, wie selbst dieses trübe, durch Exkremente, Tierleichen und allerlei Abfälle stockende Wasser noch den Eindruck unermüdlichen Fließens vermitteln konnte!
    Wind kam auf, fuhr in die Gräser und ließ sie rascheln. Gleichzeitig hörte er das verrostete Rolltor hinter sich rumoren, als wäre es ein Lebewesen, das aufbegehrte. Ein trauriger Ton, der ihn sofort an die gottverlassene Leere der stillgelegten Fabrik denken ließ, die sich wie eine Kellergruft dahinter erstreckte. Gegen dieses Tor hatte er die Frau mit aller Kraft gedrückt. Kalter Schweiß lief Kazuo den Rücken hinunter. Was hatte er da nur getan, was war nur gestern Nacht mit ihm los gewesen? Wie von Sinnen, wie ein verkommenes Subjekt hatte er sich benommen, und das passierte nur, wenn er einmal vergaß, sich Prüfungen aufzuerlegen.
    Kazuo pflückte einen der Fuchsschwanz-Halme, die direkt vor ihm wuchsen, riffelte ihn ab und spielte mit der Ährenspitze, die sich wie der Schwanz eines kleinen Kätzchens anfühlte.
     
    Kazuo Miyamoris Vater stammte aus der Präfektur Miyazaki auf Kyūshū und war 1953, als es nach dem Krieg für Japaner wieder möglich wurde auszuwandern, ganz alleine nach Brasilien gegangen. Er war damals erst neunzehn Jahre alt gewesen. Gekommen war er, um seinen Verwandten, die in einem Vorort von São Paulo auf einer landwirtschaftlichen Kolonie japanischer Einwanderer arbeiteten, die Revolution zu bringen, doch die Unterschiede zwischen dem Bewusstsein der Generation japanischer Einwanderer, die vor dem Krieg herübergekommen waren und sich mit Mühe und Not hatten durchschlagen müssen, und seiner eigenen, die die freiheitliche Erziehung der Nachkriegsjahre genossen hatte, erwiesen sich als zu groß. Bald schon hielt es Kazuos Vater, der einen stark ausgeprägten Unabhängigkeitssinn besaß, nicht
mehr dort aus. Er verließ die Japanersiedlung und schlug sich in den Straßen von São Paulo durch, wo er keine Menschenseele kannte.
    Dort half ihm nicht etwa jemand aus der Gemeinde japanischer Einwanderer, denen man doch ein so starkes Zusammengehörigkeitsgefühl nachsagte, sondern ein gutmütiger brasilianischer Barbier, der Kazuos Vater als Lehrling einstellte. Mit über dreißig übernahm er dessen Friseurladen. Als sein Leben damit in ruhigeres Fahrwasser gekommen war, heiratete er eine schöne Mulattin – wie man dort die Mischlingskinder mit einem weißen und einem schwarzen Elternteil nannte -, und bald schon wurde der kleine Roberto Kazuo geboren. Aber als Kazuo kaum zehn Jahre alt war, starb der Vater plötzlich an den Folgen eines Unfalls. Das war der Grund, warum er kaum etwas über die Sprache und Kultur des Heimatlandes seines Vaters wusste. Alles, was ihm von Japan blieb, war die Staatsbürgerschaft und sein zweiter Vorname Kazuo.
    Eines Tages, nachdem er die Oberschule absolviert und in São Paulo eine Stelle in einer Druckerei angetreten hatte, sah er auf der Straße ein Werbeposter. »Die Chance Ihres Lebens! Bewerben Sie sich um einen Arbeitsplatz in Japan!«, stand dort zu lesen. Weiter wies man darauf hin, dass japanischstämmige Brasilianer mit japanischer Staatsangehörigkeit nicht

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