Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
strenggläubige Katholikin war. Er betrachtete die Prüfung als einen Akt des Verzichts und der Selbstbeherrschung, der seinem freien Willen entsprang und zweckgerichtet war, nicht als etwas, das Gott ihm auferlegt hatte. Nur gestern Nacht hatte er sich ausnahmsweise vergessen und die eigenen Regeln übertreten.
Den Fuchsschwanz-Halm im Mund, legte Kazuo sich ins Gras und schaute zum Himmel auf. Verglichen mit Brasilien waren so wenige Sterne zu sehen, dass er es kaum glauben mochte.
Gestern war sein freier Tag gewesen. Die brasilianischen Arbeiter bekamen im Turnus jeden fünften Tag frei. Doch das widersprach ihrem gewohnten Wochenrhythmus, so dass es die innere Uhr außer Kraft setzte. Deshalb waren alle merkwürdig geschafft, wenn der freie fünfte Tag vor der Tür stand.
Obwohl es also sein lang ersehnter Urlaubstag gewesen war, hatte Kazuo am liebsten den ganzen Tag im Bett bleiben wollen, da er sich vollkommen ausgelaugt fühlte. Aus irgendeinem Grund war er so deprimiert, dass er sich kaum zu helfen wusste. Die japanische
Regenzeit, die er zum ersten Mal erlebte, setzte ihm zu. Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ sein glänzendes schwarzes Haar am Schädel kleben und seine leicht dunkle Gesichtsfarbe schmutzig und finster erscheinen. Sie sorgte dafür, dass die Wäsche nicht trocknete, und drückte die Stimmung.
Kurzerhand entschloss sich Kazuo, in die Stadt an der Grenze zwischen den Präfekturen Gunma und Saitama zu fahren, die »Little Brazil« genannt wurde. Dann hätte er einen Ausflug gemacht und gleichzeitig die notwendigen Einkäufe erledigt. Mit dem Auto wäre es nicht weit gewesen, aber Kazuo besaß ja weder Wagen noch Führerschein. Mit Bahn und Bus brauchte er fast zwei Stunden dorthin.
Er blätterte in dem Buchladen im Brazilian Plaza die Fußball-Zeitschriften durch, kaufte die nötigsten brasilianischen Lebensmittel ein und sah sich im Videoladen um. Als es Zeit wurde, nach Musashi-Murayama zurückzukehren, hielt er es vor Heimweh kaum noch aus. Er sehnte sich nach São Paulo. Um die Rückfahrt noch ein wenig aufzuschieben, ging er in ein Restaurant und trank eine Menge brasilianisches Bier. Von seinen Freunden war zwar niemand dort, aber es machte ihm schon Spaß, sich einfach mit unbekannten Brasilianern zu unterhalten. Das vermittelte ihm das Gefühl, in der Altstadt von São Paulo zu sein.
Neben der Fabrik, zu Fuß nur zwei Minuten entfernt, stand ein Wohnheim, das die Lunchpaket-Firma für brasilianische Gastarbeiter gemietet hatte. Ehepaare bekamen ein Apartment für sich, aber Junggesellen wie Kazuo mussten sich zu zweit ein Sechs-Matten-Zimmer mit kleiner Wohnküche, Bad und Klo teilen. Kazuo lebte mit einem Mann namens Alberto zusammen. Als er kurz nach neun angetrunken aus Little Brazil in das dunkle Zimmer zurückkam, war Alberto wohl zum Essen ausgegangen; jedenfalls war er nicht da. Kazuo, der frei hatte und sich mittlerweile, wahrscheinlich auch durch den Alkohol, entspannt und locker fühlte, kletterte auf die obere Ebene des Etagenbetts hinauf und schlief ein.
Etwa eine Stunde später weckte ihn ein Stöhnen. Alberto musste irgendwann zurückgekommen sein. Er lag eng umschlungen mit seiner Freundin auf dem unteren Bett. Die beiden schienen nicht bemerkt zu haben, dass Kazuo oben schon schlief, denn sie
hielten sich in keiner Weise zurück. Es war lange her, seit er das süße, lustvolle Stöhnen einer Frau so nah an seinem Ohr gehört hatte. Kazuo hielt sich die Ohren zu, aber es war schon zu spät: Ihm war, als sei in seinem Körper ein Feuer ausgebrochen. Um diese Art von Prüfung zu bestehen, hatte er extra alles Pulver ganz tief vergraben, aber was nützte ihm das, wenn doch zweifellos die Zündschnur in seinem Körper noch existierte? Falls sie Feuer fing, würde die Explosion bald folgen. Kazuo meinte verrückt zu werden; verzweifelt hielt er sich die Ohren zu, presste die Lippen aufeinander und wand sich auf seinem oberen Bett in dem hoffnungslosen Bemühen, jeden Laut zu vermeiden.
Für die beiden wurde es Zeit, zur Schicht zu gehen. Sie zogen sich an und verließen unter leidenschaftlichen Küssen das Zimmer. Kazuo stürzte zur Straße hinaus und irrte auf der Suche nach einer Frau durch die Nacht. Er hatte Feuer gefangen, so viel stand fest. Er musste dem dichten Rauch, den dieses brennende Verlangen verursachte, irgendwie entkommen, sonst würde er ersticken. Eine solche Not hatte er bisher noch nie erlebt. Wenn er daran dachte, auf welch grausame Weise die
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