Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
beim schlafen zu gesehen. Bis bald, mi amor!
Dein Großer
Roger
Ein Freudenfeuerwerk ging in ihr auf. Sie drückte den Brief an ihr Herz und lief Walzer tanzend durch die Küche. »Mi amor!« Das hatte er geschrieben: »Mi amor!« Und: »Bis bald!«
Vergnügt trällernd beschmierte sie sich eine Scheibe Brot dick mit Senf; der Senftopf erweckte ihre Dankbarkeit, sie war glücklich, und mit dem Glück kam der Appetit. » Bis bald, mi amor!« , sagte sie zu der Scheibe und biss hinein. Aber plötzlich drehte sich ihr der Magen um und sie rannte zur Toilette.
Sie konnte gerade noch an sich halten, spritzte sich Wasser ins Gesicht. Über das Waschbecken gebeugt, atmete sie tief ein. Es erinnerte sie an ihre Schwangerschaft. Beim Frühstück beherrschte sich Clémentine unter den heimtückischen, aufmerksamen Augen ihrer Mutter noch heldenhaft, bis Madame Clément aufgegessen hatte; dann rannte sie unter dem Vorwand, im Keller zu tun zu haben, hinab, um die Eier zuerbrechen, die die Blumenhändlerin sie zu essen zwang, obwohl sie genau wusste, dass Clémentine Eier verabscheute.
Da kam ihr ein Verdacht. Sie machte ein paar grobe Berechnungen und kam zu dem Schluss, dass sie ihre fruchtbaren Tage hatte. Auch mit achtzehn hatte ein einziges Mal genügt, ein einziges Mal … Plötzlich hatte sie eine unerklärliche, irrationale, absolute Gewissheit. Sie legte sich die Hand auf den Bauch und lächelte. In einer mystischen Vision eröffnete sich ihr ihre Zukunft. Der Hauptmann würde sie heiraten, jetzt wo sie schwanger war. Sie würde nicht mehr in die Schule gehen. Er würde das Brot für die Familie verdienen und sie ihr Kind aufziehen, vielleicht ihre zwei Kinder, in ihrem Alter war das durchaus noch möglich; sie würde Gedichte schreiben, die der Hauptmann irgendwann verstehen und lieben würde, Roger hatte sich seine kindliche Naivität bewahrt, das war das Wichtigste; er war ein kleiner Junge im Körper eines großen schönen Mannes. Sie stellte ihn sich vor, wie er am Abend im Hausrock mit der Pfeife im Mund am Kamin saß. Vor Entzücken liefen Clémentine Tränen über die Wangen.
Sie schaute auf die Uhr: Es war Zeit, zur Schule zu gehen. Der Tag würde anstrengend werden. Es war das Fest der Unbefleckten Empfängnis, und wie jedes Jahr musste sie mit den Schülern in die Kirche, um die Messe zu besuchen, die die Mädchen der École Marie-Reine-des-Coeurs vorbereitet hatten. Clémentine hasste all das. Aber nachdem sie sich in der letzten Woche drei Tage freigenommen hatte, war es nicht duldbar, der Schule noch länger fernzubleiben. Im Übrigen ließ sie die Aussicht, Gaston Gandon zu begegnen (»Was für ein lächerlicher Name!«, dachte sie), nunmehr gleichgültig. Was konnte er ihr schon tun? Ihr befruchteter Körper würde ein Tempel des Lebens werden. Sie liebte Bruder Gandonnicht mehr. Hinter fünf leiderfüllten Jahren schloss sich nun die Tür. Und sie ging glücklich daraus hervor, unversehrt, erneuert. Sie schrieb auf die Rückseite von Rogers Brief:
Mein Bauch ist eine Sonne, die nimmt, was sie dir gibt .
Du hast mich genommen, mein Geliebter,
Nun werde ich dir geben .
Sie fühlte sich imstande, jeden Tag ein Gedicht zu schreiben bis ans Ende ihres Lebens. Sie machte sich zurecht, suchte sich sorgfältig ihre Kleider aus und ging hinaus.
Die Luft war frostig, das tat ihr gut, schon dachte sie nicht mehr an Paris. Sie war die Tochter der Erde, die Tochter der harten Winter. Und sie würde die Frau eines Mannes werden, der ehrlich und zärtlich, vielleicht etwas ungehobelt, aber diesem Land angemessen war. »Wann sehen wir uns wieder, mein Geliebter?« Immer wieder flüsterte sie seinen Namen, wie ein Geheimnis, das sie nur mit sich selbst teilte. Einem Jungen, der sie im Vorbeigehen grüßte, streichelte sie über die Wange. Sie trug einen Aprilmorgen im Herzen, einen Morgen mit strahlendem Sonnenschein, den die Alpträume der Nacht kaum überschatten konnten, von denen sie, obwohl sie alles tat, sie zu vertreiben, nie ganz in Ruhe gelassen wurde.
Sie hatte geträumt, dass Bradette mit ihr Liebe machte, während Rocheleau mit den Händen im Schritt neben ihnen lag und sich vor Schmerz windend stöhnte.
EPILOG
Mit der Nacht kam der Schnee, er fiel in dicken Flocken auf den unermesslich großen Friedhof der Côte-des-Neiges. Die Särge von Remouald und Séraphon lagen nebeneinander in demselben Loch, ein Grabstein für beider Namen. Unweit davon ein winziges weißes Kreuz, auf dem nur ein
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