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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Zelle erfahren, als der gebeichtet hat, bevor er sich erhängt hat.«
    »Jetzt auch noch ein Erhängter«, sagte Clémentine angewidert.
    Gandon fuhr fort:
    »Das Schrecklichste an allem ist, dass Wilson fürchterlich eifersüchtig war. Er stellte dem armen Remouald nach, gingsogar so weit, dass er sich nachts an sein Fenster schlich und ihn im Schlaf beobachtete. Aber Remouald schlief nicht allein.«
    Gandon hielt inne. Seit seinem Gespräch mit dem Pfarrer ging ihm das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Es war ein Urbild, das vor jeder Erinnerung lag, wie das Bild der Kreuzigung, über das jemand, Pascal vielleicht oder der Heilige Anselm, gesagt hatte, es werde fortdauern, solange das Universum existiere. Auf seine Weise stellte auch dieses Bild einen absoluten Anfang dar. Und Gandon spürte, dass es ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen würde. Dieses Bild Wilsons, der in einer Art vorweltlicher Nacht mit vor Eifersucht irrem Blick zwei Kindern beim Schlafen zusieht.
    Plötzlich wurde ihm wieder bewusst, an welchem Ort er sich befand. Er packte Clémentine am Arm.
    »Lassen Sie mich los!«, wimmerte sie.
    »Wo sind wir? Was machen wir hier?«
    Sie standen in der Mitte des Hofes. Die Menschenmassen hinter ihnen machten jeden Rückzug unmöglich. Der Galgen leuchtete im Licht der Fackeln. Über der Menge lag ein Getöse aus Rufen, hämischer Freude und Hassgeschrei; Effigien schwangen durch die Luft: »Tod dem Brandstifter!« Bruder Gandon versuchte, dem Schafott den Rücken zuzudrehen. Er musste schreien. Mademoiselle Clément wollte sich davonmachen, aber er hielt sie zurück: Sie sollte die Geschichte zu Ende hören.
    »Eines Abends … Hören Sie mir zu, Mademoiselle Clément …? Eines Abends vor genau zwanzig Jahren, Remouald war damals zwölf, es war der Tag der Unbefleckten Empfängnis … Wilson hatte zu diesem Anlass eine besondere Zeremonie vorbereitet … Er sagte, er habe im Schlachthaus ein Lamm gestohlen.«
    »Was?«
    Er schrie, um die Menge zu übertönen:
    »Das gehörte zum Ritus, er schenkte Remouald alle Arten von Talismanen … Hasenpfoten oder Hasenohren … er bereitete das Wild zu, das er gefangen hatte, oder gestohlene Tiere, und gab sie Remouald zu essen. Erst am Ende des Mahles erhielt Remouald sein Amulett. Am besagten Abend sagte Wilson zu ihm: ›Schau in den Sack, was du gerade gegessen hast.‹ Dann zog er sich zurück … Und Remouald öffnete den Sack.«
    Gandon machte eine Pause. Der Lärm um sie herum schien wie alle Geräusche der Welt zusammengenommen. Clémentine hörte die Worte nicht mehr, sondern sah sie; eines nach dem anderen fielen sie von den Lippen des Direktors:
    »Sie hieß Joceline … Joceline Bilboquain. Sie war sieben oder acht Jahre alt. Sie war Remoualds Schwester, und …«
    Bruder Gandon hatte die Lehrerin an den Schultern gepackt.
    »Und was? So reden Sie doch!«, schrie sie.
    »In dem Jutesack … war der Kopf des Mädchens.«
    * * *
    Der Brandstifter war aufs Schafott geführt worden, die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden. Er gab entsetzte Schreie von sich, eine lächerliche heisere Klage, die kaum durch das Stimmengewirr drang. Ein Schauder ging durch die Menge, die dadurch noch enger zusammenrückte.
    »Seine Hand hat mich geleitet!«, schrie der Verurteilte aus Leibeskräften. »Er Selbst hat mir die Streichhölzer gegeben! Ich schwöre! Ich schwöre!«
    Aber niemand hörte ihn. Gandon und Clémentine wurden gegen eine Mauer gedrückt. Eine Fackel löste sich und fiel vor ihre Füße. Beinahe hätte sie die Soutane des Direktors in Brand gesteckt. Es gelang ihm, sie in der drängenden Menge mit dem Absatz auszutreten. Grinsende, fratzenhafte Gesichter brachen über sie herein. Clémentine versuchte halb vorgebeugt ihren Bauch zu schützen. Im Gedränge wurde sie an ihn gedrückt. Gandon versuchte sich mit aller Kraft zu befreien. Clémentines Gesicht klebte an seinem, ihre Haarsträhnen kitzelten über seine Lippen, er spürte die harten Knospen ihres Busens an seiner Brust. Sie waren unter dem Druck der Masse wie aneinandergeschweißt.
    »Sie hatten kein Recht, mir das zu erzählen!«
    Es klang, als würde sie aufheulen. Gandon meinte in Ohnmacht zu fallen.
    Plötzlich schrie jemand: »Da ist Roger Costade!«
    Gandon sah, wie Clémentines Wangen rot anliefen. Wieder kam Bewegung in die Menge und sie lösten sich voneinander. Clémentine blickte bang in alle Richtungen. Dann leuchtete ihr Gesicht auf.
    Am Schafott erschien der Wagen des

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