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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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leidenschaftliche Person, ohne Frage, sie neigt zu merkwürdigen Zornausbrüchen. Aber gelegentlich fürchte ich (für sie), dass sie unfähig ist, wirklich etwas für jemanden zu empfinden. Nicht weil sie herzlos wäre. Sondern aus irgendeinem anderen Grund, den ich nicht zu benennen weiß. Und dann wiederum denke ich, dass ich mich in diesem Punkt irre, wie ich rasch hinzufügen muss .
    Mit dem Bankangestellten habe ich übrigens schon einmal gesprochen, bei einer Benefizveranstaltung der Bank. Mir ist er sanftmütig erschienen. Beschämt über seinen großen Körper (er misst knapp zwei Meter), schüchtern bis verdrießlich, mit leicht dümmlichem Gesicht, um ehrlich zu sein. Er hätte in mir keine besondere Regung ausgelöst, wenn sich nicht etwas Eigenartiges ereignet hätte. Wir unterhielten uns. Ich stellte ihm banale Fragen, er antwortete entsprechend, in knappen Worten, als ich plötzlich flüchtig, blitzartig, in seinen Augen eine unerwartete, schrille , überraschende Klugheit aufleuchten sah . Das Gefühl, das mich dabei überkam, ließe sich am besten erklären, wenn man sich einen Leichnam vorstellt, der für den Bruchteil einer Sekunde mit den Augen zwinkert: Genauso merkwürdig und unangenehm fühlte es sich an .
    Einmal bin ich mit den Schülern im Zoo gewesen. Ein Waschbär hatte sich mit der Pfote im Gitter seines Käfigs verfangen. Ich versuchte, ihn zu befreien, und während ich mich an seiner Pfote zu schaffen machte, taxierte mich das Tier mit einem Blick, der mich erschütterte . Was war das? Ich hatte das deutliche Gefühl, hinter den Pupillen dieses Tieres befinde sich eine Person . Ich richtete mich auf und konnte nicht mehr weitermachen. Der Waschbär sah mich flehend an. Ich spürte mein Herz mitleidig schlagen, aber ich konnte nichts mehr tun, ich war wie gelähmt .
    Mir scheint, der Bankangestellte hatte eine ähnliche Aufruhr in mir ausgelöst. Er hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, wo er alleine saß und seinen Punsch austrank. Für einen kurzen Moment (wie gesagt, nicht länger als ein Wimpernschlag) hatte dieser Idiot den intelligentesten Blick, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, ein Licht, eine Klarsicht , die mir das Blut gefrieren ließ. Was soll man nun von ihm halten, nach dem, was Mademoiselle Clément mir über ihn erzählt hat?
    Bruder Gandon hielt inne, und als er den Flakon aus dem Pult nahm, glaubte er im oberen Stockwerk Gepolter zu hören. Er spitzte die Ohren … Nein, da war nichts: Seine Sinne mussten ihn getäuscht haben. Er schenkte sich ein großzügiges Glas Whisky ein, dann blätterte er in seinem Heft die Seite um. Er stieß auf eine Notiz vom Vorabend: ›Am Mittwoch unbedingt daran denken, die Soutane zu wechseln.‹ Lange lutschte er an seinem Stift. Dann schrieb er weiter.
    Dessen ungeachtet müssen Sie wissen, werter Herr Schulrat, dass ich Mademoiselle Clément für eine ausgezeichnete Lehrerin halte, und nichts von dem, was ich Ihnen schreibe, soll ihr gegenüber irgendeine Geringschätzung bekunden. Sollte es jemanden geben, der an ihrem Unterricht etwas auszusetzen hätte, so wäre ich der Erste, der sie verteidigte, ja ich würde meine Stellung für sie aufs Spiel setzen, so unbegrenztes Vertrauen hege ich in ihre Hingabe und Integrität .
    Zufrieden las er die Zeilen noch einmal, dann warf er einen erstaunten Blick auf die Wanduhr: Er hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen war. Wie sollte seine Standpauke für die drei Bengel aussehen? Er würde sie aus dem Stegreif halten müssen. In einem Zug leerte er das Whiskyglas.
    Wieder vernahm er Tumult auf dem Flur, ein Getrampel im Treppenhaus, dasselbe Gepolter, das er vorhin schon zu hören geglaubt hatte. Er erhob sich. Beinahe knallte ihm die Tür vordie Stirn. Vor ihm stand Mademoiselle Clément, die aussah, als sei sie verrückt geworden. Man hatte den kleinen Guillubart ins Krankenzimmer bringen müssen und beabsichtigte nun, ihn umgehend ins Krankenhaus zu fahren. Als er zurück in die Klasse kam, so erklärte sie, war er von Krämpfen erfasst worden.

R emouald schlenderte die Rue Notre-Dame entlang zum Parc Dézéry (die Leute sagten Dézyré) und ergab sich dem seltsamen Gefühl, in seiner Hand die vertrauensvolle Hand eines kleinen Mädchens zu halten. Sein bis zum Hals zugeknöpfter Paletot verdeckte seine blutbefleckte Kleidung.
    Er war unschlüssig, was er mit Sarah anstellen sollte, und dachte an Kino: Das müsste die Art von Unterhaltung sein, die einer kleinen Stummen

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