Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
erschüttert zu haben. Das sah sie daran, wie träumerisch er den Tabak in den Pfeifenkopf stopfte, und sie erschauderte vor Vergnügen. Sie wartete mit feuchten Händen. Er strich unter seinem Schenkel ein Zündholz an, und während er am Pfeifenhals saugte, um den Tabak in rote Glut zu tauchen, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Clémentine sah, dass sie sich zu früh gefreut hatte. Sie kannte dieses Lächeln, das ihr zuteil wurde, nur allzu gut von ihren Jungs, wenn sie sie schalt, dass es gefährlich sei, mit Schneebällen zu werfen. Wieder einmal musste sie feststellen, dass Bruder Gandon die Befürchtungen, die sie ihm anvertraute, nicht ernst nahm.
»Aber Bruder, haben Sie nicht gesehen, wie sie reagiert haben? Vor allem wie verstört Guillubart schien? Sind das keine Anzeichen?«
»Anzeichen vielleicht, aber keine Beweise. Hören Sie, Mademoiselle Clément. Gewiss soll ein Lehrer von seinen Schülern nicht zum Besten gehalten werden. Ich weiß Sie so scharfsichtig, dies unterbinden zu können. Aber es ist auch nicht gut, unaufhörlich Misstrauen zu hegen und zu denken, überall sei etwas im Busche. Argwohn ist eine Leidenschaft, und wie alle Leidenschaften kann er zum Laster werden.«
»Danke«, sagte Clémentine, »das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«
Der Direktor lachte gutmütig.
»Aber, aber, verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte mit dieser Bemerkung keineswegs über Sie urteilen. Das ist ganz allgemein gesprochen und kann auf mich eines Tages vielleicht genauso zutreffen. Außerdem wissen Sie, dass ich der Versuchung widerstehe, über die Menschen zu urteilen, sie zu kategorisieren und in Schubladen zu stecken, als würde Gott den Menschen serienweise erschaffen und nur über eine begrenzte Auswahl an Vorlagen verfügen. Man hat nie genügend Lebenserfahrung, um die Menschen unfehlbar beurteilen zu können, wenigstens das lernt man mit dem Alter. Trotz allem scheint es mir, und glauben Sie mir, ich sage Ihnen das in aller Freundschaft, dass Sie manchmal dazu neigen, Ereignisse überzubewerten, die sich letztlich als völlig harmlos erweisen. In meinen Augen jedenfalls war das, was die Schüler da gemacht haben, nur eine Kinderei. Tadelnswert, gewiss, und man sollte sich davor hüten, aber doch nur eine Kinderei. Zumal die Furcht vor einer Strafe sie gewiss davon abhalten wird, damit weiterzumachen. Die Kinder wissen sehr wohl, dass Sie, liebe Kollegin, einen Verdacht hegen, sie sind ja nicht dumm. Daher werden sie um so vorsichtiger sein, glauben Sie mir. Und sehr artig.«
Clémentine hätte gern einen Zeugen gehabt, dem sie mit bitterem Genuss hätte sagen können: »Sehen Sie! Sehen Sie, so denkt er!«
»Sie sollen es nicht aus Furcht vor einer Strafe unterlassen, werter Bruder. Sie sollen es unterlassen, weil sie einsehen , dass es schlecht ist, was sie getan haben.«
Sie dachte: »Ach, du grüne Neune.« Es war schon entmutigend, an derart grundlegende Dinge erinnern zu müssen. Einen Moment fürchtete sie, er würde die Gelegenheit nutzen,um sich in theologischen Ausführungen zu ergehen. Das war eine Schrulle des Direktors: Wenn man ihn auf derlei Fragen zu sprechen kommen ließ, riss er einen mit sich fort auf einen anderen Planeten. Bei der Kindererziehung wollte Clémentine aber lieber mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben und verfocht einen angelsächsischen Pragmatismus.
Im Übrigen wusste sie, dass Bruder Gandon nur darauf bedacht war, sich die lästige Arbeit zu ersparen, die Schüler zu rügen: Er hatte keinerlei Veranlagung, Standpauken zu halten. Er liebte die Kinder wie Spielgefährten und wollte sie gern auch wie solche behandeln. Clémentine betrachtete ihn sich genauer. Der Direktor strich mit den Fingerspitzen über die Lederunterlage seines Pultes. Sein Blick war geistesabwesend an den Beinen der Lehrerin hängen geblieben: Als er sich dessen bewusst wurde, wandte er ihn sogleich wieder ab. Dann gähnte er. Clémentine überkam ein Schaudern. In scharfem Ton fragte sie:
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie diese Geschichte langweilt? Wenn Ihnen das Schicksal unserer Schüler derart gleichgültig ist, dann sollten Sie wohl den Beruf wechseln.«
Gandon sah aus wie jemand, der aus dem Schlaf gerüttelt wird.
»Aber nein, nicht doch, wie kommen Sie denn darauf?«
Er wich auf seinem Stuhl zurück, als fuchtelte sie ihm mit einem Revolver vor der Nase herum. »Ich mache ihm Angst«, dachte Clémentine und verspürte einen Stich in ihrem Herz.
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