Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
bemerkte Remouald, dass er zum ersten Mal ihren Namen gesagt hatte.
Sie gelangten zum Gemüsemarkt, an eine Stelle, an der dichtes Gedränge herrschte. Man hörte die Marktschreier und das Rufen der Kistenträger beim Entladen. Die Straßenbahnen schoben sich über die Gleise, hielten an, fuhren bimmelnd weiter. Remouald schlug den Weg zum Musikpavillon ein.
Ein paar Frauen hatten sich dort untergestellt und unterhielten sich, die Einkaufstaschen zwischen den Beinen. Die Babys auf ihren Armen knabberten sabbernd an den Fäustchen. Um sie herum tummelten sich Kinder, die noch zu klein für die Schule waren und mit Murmeln spielten oder Reifen und Bälle vor sich hertrieben. Wachtmeister auf Streife schlenderten vorbei, die Hände hinterm Rücken verschränkt, mit gleichmütiger, gönnerhafter Miene. Dann und wann wiesen sie die Kinder zurecht, scheinbar unwirsch, aber begleitet von einem heimlichen Augenzwinkern.
Da erhielt Remouald Besuch von seiner Mutter.
Er begegnete ihr immer wieder unvermutet, einfach so (der Pfarrer hatte ihm erklärt, dass er sich alles nur einbildete). Plötzlich war sie hinter dem Pavillon aufgetaucht und kam auf ihn zu, oder vielmehr schwebte sie ihm wie Nebel auf einem See entgegen, ohne dass ihr violettes Kleid den Boden berührte. Verwelkte Blumen steckten in ihrem Haar. Drohend, mit hasserfüllten Augen sah Remouald sie auf sich zukommen. Er schloss die Lider, als das Gespenst durch ihn hindurchfuhr. Er verspürte ein grausames Stechen im Herz … Dann öffnete er wieder die Augen. Seine Mutter war verschwunden.
Schweren Schrittes setzte Remouald seinen Weg fort. Er fühlte sich matt und kraftlos, das Gespenst hatte ihn eines Teils seines Blutes beraubt. »Das ist nichts, das ist nur in meinem Kopf«, sagte er sich immer wieder und dachte an die Begegnung am Morgen – die Dame mit den Notenblättern. Sie war vielleicht eine echte Erscheinung.
Er ließ sich im Strom der Menge treiben. Nur noch schwach hielt seine Hand die Hand des Mädchens. Sie liefen die Marktstände entlang. Die Feuchtigkeit zog ihnen in die Knochen, undim nächsten Moment pustete ihnen ein Kohlenbecken sengende Luft ins Gesicht. Remouald fürchtete, die Kleine könnte Fieber bekommen. Um sie herum wurde gedrängelt, geschrien, gefeilscht; der Obst- und Gemüsegeruch stieg ihnen zu Kopf. Remouald musste all seine Beherrschung aufbringen, um nicht die Fassung zu verlieren und wild wie ein Hund umherzurennen.
Sarah war zu ihm gekommen. Sie legte ihre Wange an seine Hand und kitzelte ihn mit den Haaren am Handgelenk. Hastig wie ein Einbrecher packte eine winzige Nonne mit ausgeprägtem Becken Konservendosen in ihren Einkaufsbeutel. Sie stob geschäftig wie eine Fliege von einer Theke zur nächsten und schlug Sarah dabei ohne es zu bemerken in einer Drehung den Einkaufsbeutel ins Gesicht. Die Kleine fiel um. Ihr Kopf schlug auf den Boden und ein Schwall rosa Speichel floss ihr aus dem Mund. Remouald hob sie auf den Arm und raste blindlings davon. Er stieß Leute an, riss im Vorbeirennen fast die Stände um und lief ungestüm bis zum Ende des Marktes. Dort setzte er Sarah wieder ab und kniete sich hin. Besorgt untersuchte er die Blutergüsse. Sarah lachte. Ein Blutschleier benetzte ihr Zahnfleisch, und am rechten, nur halb geöffneten Auge hatte sich eine Schwellung gebildet, die langsam violett wurde. Nervös fiel Remouald in ihr Lachen ein. Aber bei dem Gedanken daran, Monsieur Judith von dem Vorfall berichten zu müssen, verfinsterte sich sein Gesicht. Sarah sah seine Bedrückung und hörte auf zu lachen.
Die umstehenden Leute beobachteten sie argwöhnisch. Remouald rief in die Runde:
»Wie dumm, dieser Unfall!«
Eine ältere Dame, auf ihren Stock gestützt, betrachtete ihn missbilligend und brummelte irgendetwas durch ihre fauligen Zähne.
Sarah griff nach Remoualds Hand und drückte ihre blutigen Lippen darauf. Remouald begriff, dass sie damit alle Verdächtigungen im Keim ersticken wollte. Vor Rührung kamen ihm die Tränen. Er wollte ihr danken, ihr etwas Nettes sagen. Er wollte ihr sagen, wie schön er sie fand. Aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Im Übrigen hatte Sarah sich bereits wieder aufgemacht, marschierte forsch zur Rue Sainte-Catherine, und er musste rennen, um sie einzuholen. Von nun an bestimmte sie den Weg und Remouald folgte gehorsam.
Hinter dem Marktausgang stand ein kleines Gebäude in Form eines Vogelhauses. Die Dachziegel sahen wie bei Hänsel und Gretel wie Zuckerhüte aus.
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