Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
streitender Eheleute, Miauen, Grunzen, und durch eine angelehnte Tür das unerträgliche Geplärr eines Babys, gefolgt vonder keifenden Stimme einer Alten, die ebenso unangenehm im Ohr klang wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten. Remouald schaute sich im Gehen nach allen Seiten um.
Plötzlich erklang hinter ihnen der Hufschlag eines Pferdes. Remouald wagte nicht, sich umzudrehen. Er bog in eine andere Nebenstraße ein, dann aufs Geratewohl in noch eine andere. Er ging, wohin seine Verzweiflung ihn trieb. Das Pferd war immer noch hinter ihnen. Remouald setzte Sarah auf dem Boden ab und kauerte sich nieder. Er tat, als schnürte er sich seine Halbstiefel, und blickte dabei verstohlen über die Schulter. In Rächerpose sah der Feuerwehrhauptmann auf ihn herab; er saugte sarkastisch Schwaden aus seiner Zigarre. Remouald nahm Sarah wieder auf den Arm. Sie flohen in eine Hofeinfahrt, schlängelten sich zwischen den Häusern hindurch, drückten sich an Mauern entlang, sprangen über Zäune und liefen noch eine Zeitlang weiter. Schließlich standen sie auf der Rue Sainte-Catherine. Die Menge zog ruhig wie immer an ihnen vorbei. Remouald lehnte sich an eine Wand und atmete durch, die Faust an die Brust gedrückt. Er dachte: »Lieber Gott, ich danke dir.« Wie im Hochsommer rann der Schweiß an ihm herunter.
Sarah dagegen klatschte vor Freude in die Handschuhe.
Um ein Haar wäre der Pfarrer, der aus der Rue Darling um die Ecke gebogen kam und gesenkten Hauptes, mächtig und gedrungen wie ein Widder, mit vollem Körpereinsatz gegen den Wind ankämpfte, mit ihnen zusammengeprallt. Seit bald dreißig Jahren betreute Pfarrer Cadorette sowohl die Güter als auch die Seelen der Gemeinde Nativité. Mit unsicherer Stimme fragte Remouald: »Wie geht es Ihnen, Herr Pfarrer?« Cadorette hatte ein Alter erreicht, in dem man sich nicht mehr verpflichtet fühlte, auf eine solche Frage zu antworten.
»Was treibst du um diese Zeit auf der Straße? Bist du nicht in der Bank …?«
Remouald wusste, er würde Stunden benötigen, um die Sache zu erklären. Deshalb sagte er nur, dass Monsieur Judith ihm für den Nachmittag seine Nichte anvertraut hatte.
Der Blick des Pfarrers wanderte forschend zwischen Remouald und der Kleinen hin und her, als würde er auf ihren Wangen nach schwarzen Punkten suchen. Er beugte sich zum Kind hinunter.
»Und du? Wieso bist du in deinem Alter nicht in der Schule?«
Remouald erklärte dem Pfarrer, dass sie nicht sprechen könne. Sarah betrachtete den Pfarrer mit einer souveränen Gleichgültigkeit, die ihn gleichermaßen kränkte und verwirrte.
»Versteht sie wenigstens, was ich sage?«
Ohne Remouald Zeit zu antworten zu geben, beugte er sich erneut zu Sarah hinab. Selbst der Blick der Kleinen blieb stumm.
»Und das kleine Jesulein, sag mal, kennst du das? Das kleine Jesulein?«
Sarah wartete ein paar Sekunden, dann nickte sie. Cadorette lächelte erleichtert. Mit einem schelmischen Augenzwinkern in Remoualds Richtung ließ er vor der Nase des Kindes das Kreuz baumeln, das er um den Hals trug.
»Und wo ist es, das kleine Jesulein? Kannst du es mir zeigen?«
Ernst und ohne zu zögern zeigte Sarah auf Remouald.
Der Pfarrer wich einen Schritt zurück.
»Wer setzt ihr nur solche Flausen in den Kopf? Bestimmt versteht sie kein Sterbenswörtchen von dem, was man ihr sagt. Ganz bestimmt nicht.«
Ihm entfuhr ein seltsames Glucksen, ein Kichern aus Verblüffung. Aber angesichts des plötzlich aschfahlen Remouald brach sein Lachen ab und hinterließ ein armseliges Echo.
»Ich verstehe das nicht. Ich kenne sie erst seit heute Morgen. Also von mir … Hören Sie, Herr Pfarrer … Sie glauben ja wohl nicht …«
Remouald hatte den Hut abgenommen und hielt ihn sich demütig vor die Brust. Grußlos zog der Pfarrer mit zusammengebissenen Kiefern von dannen. Remouald tat ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung. Dann drehte er sich um und sah, dass auch Cadorette stehengeblieben war und ihn beobachtete … Schließlich entfernte sich der Pfarrer.
Leichter Schneefall hatte eingesetzt, und Sarah zeigte mit dem Finger in den Himmel. Vögel, vielleicht Tauben oder Möwen, umkreisten den Kirchturm. Sie sah ihnen freudestrahlend zu. Remouald wurde langsam kalt:
»Kommst du?«
Da sie nicht reagierte, sagte er noch einmal:
»Komm, Sarah …«
Nun gehorchte sie, drehte aber im Laufen den Kopf, um den Kirchturm nicht aus den Augen zu verlieren. Sie lächelte ihm zu wie einem Komplizen.
Plötzlich
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