Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
gefallen könnte. Sarah zeigte sich nur mäßig an ihrer Umgebung interessiert, betrachtete alles mit einer gleichsam geduldigen wie unbeteiligten Aufmerksamkeit. Wenn er vor einem Schaufenster mit Spielsachen stehenblieb, blieb sie ebenfalls stehen, dann standen beide wartend da, Remouald, weil er meinte, der Kleinen eine Freude zu machen, die Kleine, weil sie meinte, Remouald eine Freude zu machen. Ein klares Zeichen, dass sie sich bald gut verstehen würden.
Vor einem Café bot ein pausbäckiger, frisierter Pappkoch Limonadenflaschen feil. Er schaute fröhlich drein. Sein Schnäuzer war an den Enden wie ein Fahrradlenker nach oben gebogen. Remouald zögerte kurz, bevor er hineinging. Sarah erklärte sich einverstanden mit einer Erdbeermilch, trank aber kaum davon. Lieber blies sie in ihren Strohhalm und machte Blasen. Mit aufgestütztem Kinn blickte Remouald gedankenverloren aus dem Fenster. Er dachte an den Zettel, den er am Morgen in seinem Hut entdeckt hatte. Seltsame Karten hatteihm der Zufall da ausgeteilt: ein paar Buben, eine Dame, vielleicht einen König, eine Kreuz Zwei und eine Pik Zwei, bunt gemischt, und er war unschlüssig, wie er daraus ein Blatt zusammenstellen sollte. Sarah baumelte unter dem Tisch scherenartig mit den Beinen und stieß ihn manchmal dabei an. Er ließ sie gewähren. Remouald hatte, ganz gleich woher die Tritte kamen, immer das Gefühl, sie verdient zu haben. Als Sarah bemerkte, was sie tat, schlug sie die Hand vor den Mund und entschuldigte sich mit einem Blick. Zum ersten Mal schenkte sie ihm ein Lächeln. Remouald war so ergriffen, dass er plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufsprang: Er warf das Geld auf den Tisch und sie gingen.
Remouald tat, als habe er den Feuerwehrhauptmann nicht gesehen. Zwei Passantinnen hatten ihn nach dem Weg gefragt, und der Inspektionsoffizier gab ihnen von seinem Reittier herab mit amtlichem Ernst Auskunft. Die Frau wiederholte dümmlich dreinblickend alle Straßennamen, die er sagte; das Mädchen senkte beschämt den Kopf. Remouald zog Sarah in eine Seitenstraße.
Die kurvenreiche, stark verzweigte Straße schien nicht enden zu wollen. Remouald wusste nicht, wohin sie gelangen würden. Sie liefen lange. Schließlich kamen sie unerwarteterweise am Faubourg à Mélasse heraus (die Leute sagten Faubourg à Menaces). Remouald, der noch nie einen Fuß dorthin gesetzt hatte, erkannte ihn an irgendetwas, das in der Luft lag und das er atmete. Sein Herz zog sich zusammen. Er legte Sarah die Hand auf die Schulter. Kaum zwanzig Schritt weiter tauchte plötzlich zu ihrer Linken eine Art Klavierhocker auf, ein lebendiger Dreifuß, der auf sie zuhinkte. Es war eine Frau. Sie reichte Remouald gerade bis zur Hüfte. Sie blieb vor ihnen stehen und richtete eine Krücke auf Remouald, dem nicht klarwar, ob sie ihm drohte oder um Mitleid flehte. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Ihr Gesicht, ihr Kopf, ihr Hals waren mit Beulen übersät. Remouald ging weiter. Sarah sah der Versehrten nach: Ein hagerer, ruheloser Hund hatte sich zu ihr gesellt, dem die Frau die Schnauze küsste. Ein alter Mann steckte den Kopf aus dem Fenster und schimpfte laut. Der Hund nahm Reißaus, und der Dreifuß verschwand unter einem Portalvorbau.
Remouald setzte den Weg fort. Er wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, aber ein paar Minuten später traf er wieder auf die gebrechliche Frau, die weinend unter dem Portal stand. Auf eine Krücke gestützt, hielt sie die Hand auf und sagte immer wieder das Wort »Liebe«, das aus ihrem Munde eisig klang. »Lieebe …? Lieeeebe?« Remoualds Kehle war wie zugeschnürt. »Madame …«, sagte er. Sie brach in schauderhaftes Lachen aus. Remouald wich zurück und zog Sarah am Ärmel, aber Sarah wollte nicht gehen, er musste sie auf dem Arm davontragen. Das Mädchen winkte der Frau zum Abschied kurz zu. Fast hätte Remouald um Hilfe gerufen. Von einem Balkon fiel ein Stück Fell und landete direkt vor seinen Füßen, stieß dann einen fürchterlichen Schrei aus und schoss wie ein Pfeil unter die Galerie. Remouald verlor langsam die Nerven. Sein ganzes Leben verfolgte ihn die Angst, sich zu verlaufen und nicht mehr nach Hause zu finden. Voller Beklemmung dachte er an Séraphon: Was würde er nur ohne seinen Sohn machen? Die Pflastersteine waren locker, bei jedem Schritt knickten ihre Knöchel um. Es roch nach Kohlsuppe, gekochten Rüben, verkommenen Wohnstuben, Gemüseabfällen, Heizöl, Fäulnis. Man hörte die Schreie
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