Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Rücken und brachte ihn zu seinem Wagen. Remoualdund Séraphon verkrochen sich bis zum Abend in der Küche. Cadorette musste sich um alle Formalitäten kümmern: Sie standen zu sehr unter Schock, um auch nur eine Unterschrift zu leisten. Man war genötigt, Célia in einem Armengrab zu beerdigen. Und es brauchte zwanzig Tage, bis Séraphon wieder in seinem Bett schlafen konnte. Während dieser ganzen Zeit verbrachten sie die Nächte auf Remoualds einfacher Liege, umschlungen wie Waisenkinder.
Sarah hatte seine Hand losgelassen und malte mit der Spitze des Handschuhs auf der Brüstung. Der Schnee löschte nach und nach wieder aus, was sie gezeichnet hatte. Remouald bemerkte kaum, dass sie sich entfernte. Als zwanzig Schritt zwischen ihnen lagen, klatschte sie in die Hände. Er unterdrückte einen Schrei: Sarah stand auf der Brüstung und streckte ihm die Zunge heraus. Zu ihrer Rechten befand sich ein zwanzig Meter tiefer Abgrund.
Remouald machte einen Schritt, und sie wich ebenso weit zurück. Er wollte zu ihr preschen, sie begann zu rennen. Er blieb stehen und schrie, sie solle herunterkommen: erst mit befehlender, dann mit flehender Stimme. Es war nichts zu machen. Sie tanzte auf der Brüstung und drohte übermütig, sich bei der geringsten Bewegung, die er machte, hinunterzustürzen. Sie nahm die Mütze ab und warf sie in die Tiefe.
»Warum tust du das? Warum bist du so böse?«
Sarahs Gesicht verzog sich zu jener angestrengten Grimasse, die Kinder machen, wenn sie jemanden kneifen, um ihm weh zu tun. Sie trampelte wie wild im Schnee, nahm den Finger spielerisch als Messer und zerkratzte sich Arme, Beine, Oberkörper, Wangen – mit offenem Mund und geschlossenen Augen, als versuchte sie zu schreien … Remouald verbarg das Gesicht in den Händen und begann zu weinen.
Sarah hörte sofort auf. Sie wurde verlegen, berührte dreimal nacheinander seinen Arm: Sie wollte, dass er sie anschaute, dass er sah, wie sie ihn anlächelte. Remouald packte sie und nahm sie von der Brüstung. Sie ließ es geschehen. Dann ergriff sie seine Finger, drückte sie an ihre Wange und zog ihn hinter sich her.
Der Schnee fiel, als bräche der Himmel unter dem Gewicht der Vorhölle zusammen. Die Flocken blieben in Sarahs Haaren hängen. Sie bildeten Muster, Zeichen vielleicht. Remouald versuchte, ihr seinen Hut aufzusetzen, aber sie wollte nicht. Sie schüttelte ihr Haar, um den Schnee loszuwerden, der sich sogleich wieder wie in einer Falle darin verfing. Er dachte, dass sie ihm grollte, und das stimmte ihn traurig. So lief er ihr nach und ließ sich geblendet von ihr führen. Aber Sarah war nicht verärgert. Die Nase in den Wollschal vergraben, lächelte sie ihrem Hofstaat unsichtbarer Kobolde zu, die sie umtrollten und deren heimlichen Kummer sie ebenso gut kannte wie ihre Namen.
A n sein Kissen gefesselt und mit einem raffinierten Riemensystem in seine Windel geschnürt, erwartete Séraphon Tremblay jeden Morgen gegen zehn die Witwe Racicot. Mit ihm begann sie grundsätzlich ihre Runde. Sie blieb eine halbe Stunde, vergewisserte sich, dass nichts war, das heißt, dass nichts los war, und zog dann weiter zu einem anderen Gebrechlichen. So wanderte sie ihr ganzes Leben von einem Greis zum nächsten. Sie war die billigste Krankenpflegerin im Viertel, und wenn man für Keksbruch zahlt, darf man nicht mit Kuchen rechnen. Eine Handvoll Groschen pro Woche und Patient genügten ihr, um ihren Porter zu bezahlen, mehr verlangte sie nicht. Sie verkonsumierte täglich an die zweieinhalb Gallonen.
Die Witwe Racicot lebte in Gesellschaft eines knappen Dutzends Katzen, die sie aber ihres Hangs zur Nachlässigkeit wegen oftmals vergaß zu füttern. Wo immer sie auftauchte, folgte ihr ein stechender Geruch nach eingetrocknetem Kot und vollgepinkelter Einstreu. Worte waren nicht ihre Stärke, und wenn sie etwas sagte, dann nur über ihre Hauskatzen, sie sprach von ihnen wie eine Mutter von ihren Sprösslingen, ohne dass es sie kümmerte, ob man ihr zuhörte, und brachte dabei sämtliche Namen durcheinander. Die Kinder aus dem Viertel hatten ihre Freude an ihr. Wenn sie im Winter über die Straße spazierte, warfen sie ihr so viele Schneebälle hinterher, dass sie einen Großhandel damit hätte betreiben können.
Bei Séraphon blieb sie volle zwei Stunden, länger als bei jedem anderen Kranken. Oft wartete sie sogar, bis Remouald von der Bank zurück war, bevor sie sich davonmachte. Remouald brachte sie besondere Achtung entgegen, da er im weißen
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