Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Ein ovales Loch in der Fassade war zu beiden Seiten von grünen Fensterläden gesäumt, doch statt eines Kuckucks saß ein Kind darin: Maurice Bergeron, der kleine Feuerwehrwaise.
Auf dem Kopf trug er den Helm, den er am Morgen beim Begräbnis seines Vaters aufgehabt hatte. Neben ihm standen zwei Wohltätigkeitsdamen, die eine Lotterie veranstalteten, um Geld für das Kind zu sammeln. Ihnen oblag es, möglichst traurig zu lächeln, während Maurice den Käufern die Lose hinzuhalten hatte. Er war sichtlich bemüht, ganz in seiner Rolle zu bleiben, und wirkte beflissen wie der Assistent eines Messerwerfers. Auf Sarahs Geheiß nahm Remouald ohne weiter nachzudenken ein Los, und da er nichts damit anzufangen wusste, schenkte er es der Kleinen, die sich nicht dafür interessierte. Sie musterte Maurice und schien sich zu sagen: »So also sieht ein Waisenkind aus?« Der Junge wandte kläglich den Kopf zur Seite: Er war zu gut dressiert, um vor einem anderen Kind nicht das Gefühl zu haben, die Kindheit zu verraten. Schließlich deutete er ein Lächeln an. Sarah schnitt eineGrimasse und zuckte die Schultern. Remouald steckte das Los in die Tasche, wo er es bald vergaß, und sie nahmen wieder Kurs gen nirgendwo. Was den Inhalt seiner Taschen betraf, war er so nachlässig, dass ihn das Los bis ans Ende seiner Tage begleiten würde.
Gegen Ende des Nachmittags erklommen sie die Treppe zum Viadukt. Remouald fiel auf, dass Sarah nicht laut auf die Stufen stampfte wie die anderen Kinder, die sich gern über Geräusche vergewissern und immer alle Türen knallen. Im Gegenteil, Sarah setzte den Fuß behutsam auf die Stufen, bevor sie das Gewicht verlagerte, und vermittelte Remouald das Gefühl, Vertrauen in die Dinge zu haben und mit ihnen ein Geheimnis zu teilen, das es zu hüten galt.
Vom Viadukt aus konnten sie das Viertel überblicken, das sich hinunter bis zum Fluss erstreckte. Es war seltsam. Remouald entfernte sich für gewöhnlich nicht so weit von zu Hause. Er suchte in der schwarzen Masse der Straßen sein Haus, aber ein Regenschauer trübte die Sicht. Man konnte kaum das Gebäude der ACE BOX und die Christi-Geburt-Kirche von Hochelaga erkennen, deren verwinkelte Formen von einem zu hohen Kirchturm überragt wurden und an einen eingeschlafenen Schwan erinnerten, der im Traum leicht die Flügel spreizt.
Der Himmel war wie an dem Tag, als Célia, seine Mutter, gestorben war. Remouald war damals Anfang Zwanzig, und Séraphon konnte bereits einige seiner Glieder nicht mehr bewegen, die ihn nach und nach verließen wie ausgebrannte Lampions. Entgegen ihrer Gewohnheit, als Erste aufzustehen, blieb Célia an diesem Morgen im Bett. Remouald und sein Vater saßen schweigend am Küchentisch. Fröstelnd wartetensie auf ihr Frühstück, als wären Schicksalsschläge am besten abzuwehren, indem man sich an die gute Fee namens Routine hielt. Doch die Zeit verstrich und keiner von beiden getraute sich an Célias Bett, um nach ihr zu schauen, während das Unbehagen weiter wuchs. Und die Angst, eine Angst, die ihren Namen nicht zu nennen wagte. Als er es nicht mehr aushielt, schlug Remouald seinem Vater vor, eine Runde im Rollstuhl zu drehen.
Zu der Zeit hatte ihr Spaziergang noch nicht seine endgültige Route gefunden. Nach einem Schlenker zur Kirche wurden sie von einem plötzlichen Schneefall überrascht und suchten unter ihrem Vorbau Schutz. Der Küster sah, wie sie zitternd im Wind standen, und ging zum Pfarrer, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Erstaunt, sie hier so früh am Morgen vorzufinden, fragte Cadorette, ob etwas passiert sei. Sie wichen aus. Séraphon sagte: »Wir sind gekommen, dem Herren Lob zu singen …!« Cadorette platzte der Kragen: »Hört auf, mich zum Narren zu halten, irgendwas stimmt mit Célia nicht, hab ich Recht?« Séraphon stöhnte, aber es gelang dem Pfarrer nicht, ihnen die Würmer aus der Nase zu ziehen. Schließlich sagte er zu seinem Küster: »Dann gehe ich selber nachsehen.« Den ganzen Weg ärgerten ihn die quietschenden Räder von Séraphons Rollstuhl, der ihm nachfolgte.
Vor der Haustür angelangt, weigerte sich Remouald einzutreten, und der Pfarrer sah sich gezwungen, ihm den Schlüssel zu entreißen. Vater und Sohn warteten im Schneegestöber. Cadorette betrat das Haus, fand das traurige Ding in seinem Bett und konnte nur noch feststellen, dass sie einst gewesen war. Die Bestatter wurden gerufen, und da Sonntag war, holte Monsieur Costade persönlich den Leichnam. Er lud ihn sich auf den
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