Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Zeichen zum Aufbruch. Clémentine und Gandon gingen in die Küche, um ihre Mäntel zu holen. Lorèthe deckte gerade den Tisch. Dabei rempelte sie rücksichtslos ihren Vater an, der auf die Ellbogen gestützt vor einer Flasche Cidre saß. Monsieur Guillubart starrte in sein Glas und schenkte den Besuchern keine Beachtung. Sein Sohn Marcel beobachtete ihn, als wollte er auf ihn anlegen, und in seinen Augen war so viel Hass, dass es Clémentine fröstelte. Madame Guillubart sagte zu ihrem Mann:
»Du könntest ein bisschen höflicher zu den Leuten sein, Hector.«
Der Bruder warf der Frau einen Blick zu, der besagte: »Nein, lassen Sie, Sie haben schon genug Sorgen.« Aber die Guillubart ließ nicht von ihm ab und sprach dabei so laut wie mit einem Schwerhörigen:
»Das ist kein Pfarrer, Totor! Das ist der Schuldirektor, mit Eugènes Lehrerin. Sie sind da, um zu sehen, wie’s ihm geht.«
Hector hob eine Gesäßhälfte und ließ eine Flatulenz hören.
»Es ist besser, wir gehen«, sagte Clémentine taktvoll.
Sie ging zur Tür, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Mantel zuzuknöpfen. Gandon in seiner Soutane verweilte noch. Der Jüngste der Familie saß auf dem Boden und wedelte sich vergnügt mit der Hand vor dem Gesicht herum. Madame Guillubart sagte lachend:
»Er versucht, Engel an ihren Flügeln zu fangen, und dann pustet er die Federn fort, die ihm noch an den Fingern kleben.«
Madame Guillubart geleitete sie zur Ausgangstür. Mademoiselle Clément bat sie anzurufen, falls sich Eugènes Zustand änderte. Madame Guillubart versprach es ihr. Bevor sie die Tür schloss, ergriff sie Clémentines Hand und küsste sie.
Sie verband ihre Wunde im Badezimmer mit einem Tuch und kehrte in die Küche zurück. Als sie an Eugènes Zimmer vorbeikam, widerstand sie der Versuchung hineinzugehen, um ihn nicht zu wecken.
»Ein Pfarrer! Ein Kittelaffe!«, brummelte ihr Ehemann. »Kirchenvolk in unserem Haus!«
Er wartete, bis seine Gattin in Reichweite war. Dann packte er sie am Arm und schubste sie mit aller Wucht gegen die Wand. Marcel stieß einen drohenden Schrei aus, doch seine Mutter beschwichtigte ihn mit einem Blick.
Sie ging zum Schrank, in dem sie den Reis für die Suppe aufbewahrte. Im Vorbeigehen streichelte sie, als ob nichts wäre – wie um ein Geheimnis zu wahren, das sie nur mit ihm teilen wollte – die Wange ihres Jüngsten und warf ihm mit den Fingerspitzen einen Kuss zu, »eine Feenpost«, wie sie es nannte.
Das Kind klatschte vor Freude in die Hände, entzückt über sein Leben im Paradies.
* * *
Clémentine ging mit sich selbst mit derselben Verbissenheit, derselben finsteren Unerbittlichkeit ins Gericht, mit der sie sich manchmal vor dem Direktor erniedrigt hatte. Eine Unerbittlichkeit, die sich letztlich immer gegen ihn wandte, das wusste er. Beinahe verachtete sie ihn dafür, dass er für einen so mittelmäßigen Menschen wie sie Wertschätzung empfand.Und je mehr er sie gegen sich selbst verteidigte, um so ungehaltener wurde sie über ihn.
»Sie übertreiben Ihre Reue«, sagte er. »Es ist doch wohl nicht Ihre Schuld, dass der Kleine krank ist. Sie hatten die besten Absichten, Sie glaubten, richtig zu handeln.«
»Aber ich habe Eugène bedrängt und in die Enge getrieben, ich alte misstrauische Jungfer. Sie verstehen mich nicht! Ich wusste, dass er der Erste von den dreien wäre, der etwas preisgeben würde, weil er am verletzlichsten ist. Verstehen Sie? Ich habe das ausgenutzt! Ach, diese verfluchten Zeichnungen … Wenn Sie gesehen hätten, mit welchen Augen er mich angeschaut hat an dem Morgen, als er seinen Anfall bekam! Wie flehentlich …! Und ich dachte: ›Jetzt ist er so weit, jetzt redet er, und ich erfahre alles!‹ Wie dumm von mir.«
In ihrer Rage begann sie unfreiwillig zu spucken. Sie wischte sich mit den Fingerspitzen über die Lippen.
Der Wind wurde schärfer, durchdringender, es wurde dunkel. Hier und da erhellte sich ein Fenster. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her.
»Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich Sie bis zu Ihrer Haustür begleite, Mademoiselle Clément?«
Clémentine zuckte gleichgültig. Trotz ihres Hinkebeins lief sie so schnell, als wolle sie vor ihm vorausgehen, damit es schien, als stelle er ihr nach. Sie schaute demonstrativ um sich, interessierte sich für alles und jeden, nur nicht für ihn.
Bruder Gandon war traurig und gekränkt. Wie mit fünfzehn, als er in der Abenddämmerung am Ufer des Brome-Sees entlangspazierte und sich
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