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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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kann, wenn man sich nach einem Schicksalsschlag im Kreise einer betroffenen Familie aufhält. Sie bemitleidete Madame Guillubart und wurde den Gedanken nicht los, dass der Junge erkrankt war, weil sie, Clémentine, ihn so sehr gequält hatte. Und was, wenn Eugène sie jetzt vor seiner Mutter bloßstellen würde, wie grausam sie gewesen war …?
    Madame Guillubart hatte die eiskalten Finger der Lehrerin in ihre Hand genommen. Vorsichtig öffnete sie die Zimmertür. Die Luft war feucht. Durch die Guipure-Spitze der Gardinen tauchte die bleiche Wintersonne das Zimmer in ein milchiges Licht, das alle Farben und Konturen dämpfte. Eugène, dessen Gesichtszüge kaum zu erkennen waren, lag in seinem Bett mit bis unter die Achseln hochgezogener Decke. Nur seine fuchsroten Haare warfen ein wenig Glanz auf das Kopfkissen.
    »Schau mal, wer da ist.«
    Clémentine setzte sich zu ihm ans Bett.
    »Sagst du nicht Guten Tag?«
    Das Kind musterte die Lehrerin mit einem langen gleichgültigen Blick. Clémentine, die gegen das Zittern in ihrer Stimme ankämpfte, erkundigte sich, wie es ihm gehe. Er antwortete nicht. Sie holte aus ihrer Handtasche eine Genesungskarte mit den Unterschriften seiner Klassenkameraden und faltete sie vor seiner Nase auseinander. Eugène betrachtete sie unwillig, dann drehte er das Gesicht zur Wand.
    Clémentine erhob sich, fest entschlossen, das Zimmer zu verlassen. Madame Guillubart umklammerte wie mit Klauen ihr Handgelenk, um sie zurückzuhalten.
    »Nein, ich flehe Sie an, er braucht Sie.«
    Die Lehrerin versuchte behutsam, ihre Hand zu befreien. Die Frau aber drückte noch fester zu.
    »Bleiben Sie!«
    »Sie tun mir weh.«
    Das hatte sie mit bittender Kleinmädchenstimme gesagt. Plötzlich zeigte Madame Guillubart ihr ein Gesicht, das ihr Schrecken einflößte. Sie sah aus wie eine mit Weihwasser bespritzte Hexe. Dann wandelte sich ihr Ausdruck, nur indem sich das Licht im Halbdunkel des Zimmers änderte, ohne dass sich ihre Gesichtsmuskeln bewegt hätten. Clémentine bemerkte, dass ihr die Frau zulächelte. Ein unterwürfiges, flehendes Lächeln, das die Lehrerin keine Sekunde länger ertragen konnte. Von Neuem versuchte sie, ihre Hand zu befreien, als Eugène aufstöhnte und der Griff sich löste. Clémentine taumelte rückwärts zur Tür. Die Finger der Frau hatten brennende Stellen auf ihrem Handgelenk hinterlassen.
    Sie hörte Fetzen des geflüsterten Gesprächs, das Kind äußerte eine Bitte, seine Mutter zögerte. »Nein, später, mein Lieber.« Aber das Kind bestand darauf.
    Madame Guillubart entzündete eine Petroleumlampe, ein gelblicher Schein flackerte empor. Sie stellte das Licht auf den Tisch neben dem Bett. Clémentine sah, wie die Frau das Messer ergriff. Sie sah, wie sie die Finger spreizte, sich langsam über die Handflächen leckte und dann mit der Klinge in das weiche Fleisch des Handballens fuhr: Die geschmeidige Haut öffnete sich so leicht wie die Seiten einer Bibel. Sie sah, wie sie die blutüberströmte Hand ihrem Sohn an die Lippen führte.
    Clémentine stürzte aus dem Zimmer. Fast augenblicklich war Madame Guillubart bei ihr und brach, als sie sie weinen sah, ebenfalls in Tränen aus.
    »Sie dürfen sich nicht so gehen lassen, Mademoiselle. Er wird wieder gesund. Ich weiß, dass er wieder gesund wird. Ich weiß das besser als alle Ärzte.«
    Sie zog unter dem Träger ihres Büstenhalters ein altes Taschentuch hervor und hielt es Clémentine hin, die es nach eingehender Betrachtung ablehnte. Madame Guillubart schnäuzte hinein. Als sie Bruder Gandon kommen sah, versteckte sie die verletzte Hand hinter ihrem Rücken.
    »Nicht wahr, Bruder, er wird doch wieder gesund?«
    Der Direktor versuchte Clémentine zu trösten, aber ohne Erfolg: Das nervöse Schluchzen der Lehrerin ärgerte ihn. Sie gehörte zu den Frauen, die hässlicher wurden, wenn sie weinten. Ihr Schniefen klang wie Schweinegrunzen.
    »Mademoiselle Clément, ich bitte Sie«, sagte er.
    Ungewollt klang seine Gereiztheit durch. Er versuchte es sogleich wieder gutzumachen, indem er ihr nun seinerseits sein Taschentuch anbot.
    »Hier, meine Liebe.«
    Clémentine hörte sogleich auf zu schluchzen. Sie stammelte ein kaum hörbares »Danke« und sah ihn erstaunt an. Er hatte sie »meine Liebe« genannt. Verlegen wandte Bruder Gandon den Kopf ab. In diesem Moment kam Vater Guillubart ins Haus gestürmt und schlug die Tür hinter sich zu. Er wankte kurz, als er sie sah. Dann lief er grußlos durch den Flur.
    Das war das

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