Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
dir! Habe ich nicht gesagt, du sollst mitkommen?«
Wilson stand wie versteinert da.
»Was schaust du mich so an?«
Séraphon drehte sich um. Ein kleiner Junge flitzte die Anhöhe herunter. Er war vielleicht zwölf Jahre alt. Auf Brusthöhe hielt er ein Blatt Papier in den Händen, wie ein Chorkind, das eine Kerze trägt. Bei einem kleinen Hügel blieb er stehen. Sein Haar hatte die Farbe des Sonnenuntergangs, der sich auf die frisch geschnittenen Bretter legte. Séraphon sagte ihm, er solle woanders spielen gehen. Der Junge antwortete, er bringe eine Nachricht.
»Schieb’ sie mir unter der Tür durch, ich schau sie mir später an.«
Das Kind machte leichtfüßig kehrt und verschwand wieder. Séraphon sagte:
»Ich habe den Burschen als Boten eingestellt. Er heißt Remouald. Remouald Bilboquain.«
Wilson sah dem verschwindenden Blondschopf nach.
»Also, wenn du genügend Löcher in die Luft geguckt hast, kannst du ja rüberkommen.«
»Halt’s Maul«, versetzte Wilson.
Séraphon kehrte in seine Küche zurück.
Er setzte sich an den Ofen und wartete. Während er darüber nachgrübelte, wie er dem Lehrling für seine Unverschämtheitdie Leviten lesen sollte, ließ er seinen Schaukelstuhl einen wilden Tanz vollführen. Nach und nach aber tat die in ihn eindringende Wärme ihr Werk, der Rhythmus verlangsamte sich und er döste ein. Er träumte von irgendwelchen Tieren, von Aufruhr und Verfolgung, Bilder seiner Kindheit mischten sich dazu. Grunzend kam er wieder zu sich, mit umnebeltem Geist und besessen von einer Idee. Es war Abend geworden. Die Glut im Ofen ließ blutfarbene Schimmer über die Möbel tanzen. Mit der Unbeirrbarkeit eines Schlafwandlers setzte Séraphon die Wollmütze auf, zog den Mantel an, griff sich eine Lampe und stürzte ohne die Tür zu schließen in die Nacht.
Seine Schritte führten ihn zum Pferdestall. Die Feuchtigkeit, die Kälte und der Geruch der Pferde weckten ihn endgültig wieder auf. Er ging zu den Hengsten. Als Séraphon klein war, hatte Onkel Anselm ihm gezeigt, wie man das Männchen in Wallung brachte, um die Kundschaft zu beeindrucken. Er hatte in diesem Spielchen eine fachmännische Fingerfertigkeit erlangt. An langweiligen Abenden besann er sich seiner Jugend und beobachtete mit derselben belustigten Verwunderung wie damals, wie das Gerät zu clownesken Ausmaßen anschwoll.
Séraphon begann das Tier mit einem Staubwedel zu reizen. Es bäumte sich auf und schubste ihn mit der Kruppe zu Boden. Séraphon blieb eine Weile von Lachen geschüttelt liegen. Er hielt sich an einer Holzplatte fest, um sich wieder hochzuziehen. Aber die Platte fiel um und ein Heft kam zum Vorschein. Séraphon hielt die Öllampe darüber. Auf dem Umschlag stand Bekenntnisse eines Ungeheuers . Es war eindeutig die Handschrift seines Lehrlings, wild, ungleichmäßig, wüst. Séraphon blätterte hinein und begann pochenden Herzens zu lesen.
… und obwohl Amadeus die Anmut, die Schönheit, der Zauber der Kindheit in Person war und ich, Jean-Baptiste, missgestaltet in Herz und Gesicht, ergänzten wir uns wie Tag und Nacht. Die Stute aber hielt mich für den Teufel .
Meine ersten Wochen auf dieser Welt – will sagen: meine ersten Wochen als Jean-Baptiste – wurden mir in allen Einzelheiten an dem Tag offenbart, als ich das Tagebuch meines Vaters hinter einer Reihe Bücher in der Bibliothek versteckt fand. »Offenbart« ist übrigens nicht das richtige Wort. Diese Geschichte, die ich las, bis ich sie auswendig konnte, tat nichts anderes, als mich in meinen Erinnerungen zu bestätigen. Einige der Szenen waren mir auf das Lebendigste im Gedächtnis geblieben .
Mein Vater, der selbst Arzt war, hatte darauf bestanden, bei der Entbindung dabei zu sein. Die Wehen hatten mitten in der Nacht eingesetzt. Es war Winter. Die Morgendämmerung soll prachtvoll gewesen sein. Gegen Mittag ließ das Kind endlich den ersten Teil des Kopfes blicken, alles sah gut aus. Es kamen der Kopf, die Schultern, der Oberkörper, am Baby war offenbar alles dran. Aber als das Gesäß folgen sollte und man das Ende schon nahe glaubte, ging es plötzlich nicht weiter. Irgend etwas steckte innen fest . Unruhe kam auf. Sosehr die Stute auch presste, es half alles nichts . Erst weinte das Baby nur schwach, dann begann es nach Luft zu schnappen. »Da ist noch was anderes in meinem Körper«, sagte meine Mutter. Sie spürte einen Fremdkörper, »etwas Zappeliges«, das sie peinigte. Erst sechs Stunden später, als es schon wieder
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