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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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träumte von unserer gemeinsamen Freiheit, wenn die Stute nicht mehr war … Amadeus hörte mir zu. Aber aus Angst, sie könne uns zusammen erwischen, floh er nach fünfzehn Minuten aus meinen Armen, und zurück blieb nur sein Tannengeruch. Das ging bisweilen bis zu zwei Wochen so. Zwei lange Wochen, in denen ich nichts anderes tun konnte als lesen, lesen und nochmals lesen . Ich war noch keine zehn Jahre alt und hatte bereits begriffen, dass alles, was man in den Büchern findet über Gott, über das »menschliche Herz«, über die Welt, ein einziges aus Eitelkeiten gestricktes Lügengeflecht ist, und schon damals ahnte ich, dass ich eines Tages dazu verleitet würde, der Welt eine schallende Lektion über die Wahrheit zu erteilen .
    Aber die Stute starb nicht – zumindest nicht sofort –, mein Vater ging als Erster von uns. Wir waren damals zwölf Jahre alt, Amadeus und ich. Da, plötzlich, wurde mir rücksichtslos und unwiederbringlich meine zweite Hälfte entrissen, blieb mir nichts mehr zu lieben, und es begann für mich eine endlose Nacht, eine Nacht ohne Morgen und ohne Wiederkehr .
    Amadeus sollte auf ein Internat geschickt werden. Endlich konnte die Stute ungehindert ihre Pläne verwirklichen, gegen die sich mein Vater immer gesträubt hatte: Sie wollte Amadeus zum Priester machen . Zum Priester! Ich bekam einen Tobsuchtsanfall, als mein Bruder im Wagen weggefahren wurde. Ich sprang aus dem Fenster der Bibliothek. Man fand mich in der Kapelle, wo ich in wildem Zorn die Heiligenfiguren umwarf. Es brauchte drei Mann, um mich zu bändigen . Meine Mutter machte sich die Gelegenheit natürlich sofort zunutze. Mit diesem Tag war meine Isolation endgültig besiegelt .
    Fortan musste ich in der Jagdhütte wohnen. Zu meiner Überwachung wurde ein Hausangestellter bestimmt. Ein Mann ohne Alter, ohne Ausdruck, fast ohne Gesicht, ich glaube nicht, dass ich jemals mehr als fünfzig Worte mit ihm gewechselt habe. Er war unablässig bei mir wie Pascals Abgrund. Wenn ich im Wald auf Bäume kletterte, kletterte er mit mir. Wenn ich aß, wenn ich schlief, wenn ich meine Notdurft verrichtete, wenn ich Fieber hatte, war er da, unbeirrbar, ohne jemals Wut, Abscheu oder gar Mitleid zu zeigen: wie ein Gefängnistor in menschlicher Gestalt .
    Das Gefängnis hatte allerdings die Weite des Familienguts. Ich durfte über die Felder stapfen, die Wälder durchstreifen, Fallen für das Wild aufstellen. Schon bald wollte ich mir mein Essen gern selbst zubereiten, denn der Gedanke, dass die Stute mich in kleinen Dosen vergiften wollte, schien mir keineswegs absurd. Den Ofen musste der Hausangestellte anzünden, der törichten Befürchtung wegen, ich könnte dabei versuchen, die Hütte in Brand zu setzen. Als würde ich Feuer in meinem eigenen Zuhause legen …! Die Dummheit der Stute war seit jeher grenzenlos .
    Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Mutter in der ganzen Zeit kein einziges Mal bei mir gewesen ist. Im Garten, der an meine Hütte grenzte, stand eine Marienstatue. Sie kam zwei- oder dreimal die Woche dorthin, um zu beten. Ich postierte mich ans Fenster. Um nichts in der Welt hätte ich dieses groteske Spektakel verpassen wollen . Mehrmals im Monat besuchte sie meinen Bruder im Internat . Zumindest vermute ich das. Sie stieg mit strahlendem Gesicht in den Wagen und kehrte gegen Ende des Nachmittags mit Begräbnismiene wieder zurück. An den Abenden dann hörte ich ihr klagendes Geklimper auf dem Klavier. Mozart bis zum Erbrechen – oder schlimmer noch: Chopin .
    Ich verkehrte mit ihr nur schriftlich, einmal bat ich sie, mir eine Brille machen zu lassen. Zu meiner großen Überraschung willigte sie ein. Ich schrieb ihr kurze Briefe, die ich an »die Zwillingsstute« adressierte und mit »Der Bibliothekar« unterzeichnete. Ichverlangte nach Büchern, die das Gefängnistor mir kistenweise brachte . Bald war die halbe Bibliothek in meine Hütte übergesiedelt. Da sie hauptsächlich aus religiösen Texten bestand, hatte meine Mutter nichts dagegen, dass ich meinen Geist mit ihnen nährte; außerdem glaubte sie an die lindernde Kraft, die die Lektüre auf mich ausüben würde: Ich glaube tatsächlich, dass sie gestorben ist, ohne je geahnt zu haben, wie falsch sie darin lag. Die Bände stapelten sich von Küchengerüchen durchdrungen auf dem Boden; Wildgänse hingen von der Decke; Schweineköpfe und Kartoffelsäcke dienten als Bücherstützen .
    Die Jahre vergingen, und ich nutzte sie, um mich zu vervollkommnen, will heißen: in

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