Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
dämmerte, und nach erheblichen Schmerzen wurde sie erlöst. Für einen Moment herrschte Verblüffung. Man sah jetzt den Grund, warum das Kind nicht herauskommen konnte. Die Nabelschnur eines anderen hielt es zurück. Und dieses andere war dicht behaart, hatte den Mund schon voller Zähne, es schien, wie mein Vater sagt, hämisch zu grinsen und kam mit weit geöffnetenAugen zur Welt . Mein Vater verlor das Bewusstsein. Dieses abscheuliche Wesen war ich .
Meine Mutter weigerte sich, mich zu stillen, und ich wurde gleich am zweiten Tag zur Amme gegeben. Amadeus, der an Gelbsucht litt, siechte zunehmend dahin. Weder die Empfehlungen des Arztes noch die altbewährten Hausmittel konnten etwas ausrichten. Die Stute war verzweifelt. Da kam es einem der Hausangestellten in den Sinn, uns wieder zusammenzuführen. In seinem Tagebuch spricht mein Vater von einem »Wunder«. Man ließ die Stute kommen. Ich lag meinem Zwilling zugewandt und streichelte ihn zärtlich. Entsetzt über dieses Bild, entriss sie mich ihm und warf mich zu Boden. Ich war geschockt, als ich von dieser Begebenheit las, denn ich meinte mich noch genau daran zu erinnern.
Die Gefühle meines Vater mir gegenüber waren nicht besser als die meiner Mutter. Was er darüber schreibt, lässt keinen Zweifel . Für sie wie für ihn war ihr Kind, ihr einziges Kind Amadeus. Ich war nur ein Ding, das dieser zum Leben brauchte, ein monströser Auswuchs, ein irriges, aber notwendiges Organ. Man muss meinem Vater zugestehen, dass er dies sofort begriffen hatte. Und obwohl er aus einer Charakterschwäche heraus, die Amadeus von ihm erben sollte, meiner Mutter in fast allem nachgab, war er diesbezüglich kompromisslos, und solange er lebte, war das Paar, das wir bildeten – mein Zwilling und ich –, in gewisser Weise geschützt. Mindestens bis er vier Jahre alt war, begann Amadeus nach Luft zu ringen, sobald er mich aus den Augen verlor. Er tastete nach mir, fiel manchmal sogar in Ohnmacht. Daher teilten wir miteinander Zimmer, Spiele, Waldspaziergänge und, als wir im rechten Alter dafür waren, auch den Hauslehrer, einen weibischen Mann, der Amadeus zärtlich erstaunte Blicke abnötigte, die mich in Rage brachten. Hingegen konnte mein Vater nicht durchsetzen, dass ich mit Amadeus zu den Gesangs- und Klavierstunden gehen durfte, mit denen meine Mutter ihn überhäufte und die ihn begeisterten. Bei meiner schrillen Stimme standen ihr die Haare zu Berge; und dann war die Musik für meine Mutter etwas Heiliges, mich zu unterrichten hätte in ihr das Gefühl ausgelöst, geweihte Hostien in den Dreck zu werfen .
Die Musik war übrigens nicht das Einzige, was Amadeus begeisterte . Sehr bald hatte er seine Freude an Spiegeln entdeckt. Wenn wir miteinander allein waren, bat ich ihn oft: »Sieh mich an, so wie du dich selbst immer ansiehst.« Er versuchte es bereitwillig, geriet aber schnell aus der Fassung: »Wenn ich’s dir doch sage, genau so sehe ich mich auch immer an …!« – »Nein«, sagte ich lächelnd. Und er rannte heulend davon .
Ich habe bereits etwas zu seinem schwachen Charakter gesagt . Aber er hatte auch eine merkwürdige egoistische Härte an sich, die naiv und unbewusst auf der Gewissheit beruhte, dass grundsätzlich alles ihm gebührte. Er hielt es für selbstverständlich, dass ich mich der Missetaten bezichtigte, die er begangen hatte, obwohl wir beide wussten, dass die Strafen, die mir unter diesen Umständen auferlegt wurden, zehnmal härter waren als seine. Abends, wenn wir in unserem Bett lagen, pustete er sachte über die Wunden auf meinem Rücken, so wie ich ihn manchmal am Tage in das Fell einer Katze pusten sah. Er bettete seinen kleinen Körper an meine Brust und schlief ein, während ich über seinen Schlaf wachte. Alles, was an uns beiden hässlich war, hatte ich auf mich genommen. Ich unterwarf mich ihm, wohl wissend, dass er ohne mich nichts war, ebenso wie ich ohne ihn. Er war der liebenswürdige Teil von uns beiden, das Einzige an mir, was ich liebte .
Die Stute aber glaubte, ich hätte einen verderblichen Einfluss auf ihn. Wenn mein Vater auf Geschäftsreise war, ordnete sie an, mich in die Bibliothek zu sperren, wo ich einen Gutteil meiner Kindheit verbrachte . Ein Hausangestellter servierte mir die Mahlzeiten. Wenn meine Mutter ihren Mittagsschlaf hielt, kam Amadeus mit Äpfeln oder Marmeladebroten zu mir. Wir drückten uns aneinander – oder besser gesagt: ich drückte ihn an mich. Wir flüsterten uns Versprechen ins Ohr. Ich
Weitere Kostenlose Bücher