Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
meiner Würde als eingesperrtes Raubtier . Ich wusch mich nicht, wechselte nie die Kleidung, wusste nicht mit Gabel oder Löffel umzugehen. Ich schrieb ein Lob des Tieres , das ich dem Heiligen Ignatius widmete. Was ich alles geschrieben und wieder verbrannt habe, weiß Gott allein – und er zittert noch immer davor . Schreiben zum Schrecken des Schöpfers, das war ein Spiel, an dem ich mich lange Zeit vergnügt habe, und wenn ich merkte, wie er bebte, lachte ich lang und grässlich. Wann immer sich Gott meiner Seele nähert, dem prachtvollen Glanz ihrer Monstrosität, bleibt ihm die Luft weg, ja, er scheint zu ersticken – ich höre förmlich, wie er erstickt, wie er zugrunde geht, und für einen Augenblick erfüllt sein Röhren das gesamte Universum. Das ist die einzige Musik, die ich liebe .
So lebte ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Amadeus war erkrankt, hatte sich zwar leidlich wieder erholt, konnte aber nicht mehr auf dem Internat bleiben. So stand es in dem Brief, den ich eines Morgens von der Stute bekam. Ich sah, wie der Wagen vorfuhr. Ich war aufs Dach meiner Hütte geklettert und rannte wild winkend von einem Ende zum anderen. Ich rief seinen Namen. Amadeus senkte die Stirn, als wagte er nicht, mich anzusehen. Meine Mutter wartete auf der Vortreppe, und er ließ sich von ihr an ihr Herz drücken .
Tagelang wartete ich darauf, dass Amadeus zu meiner Hütte kommen würde. Ich durfte nicht mehr hinaus, nicht einmal mehr um spazieren zu gehen. Festlich gekleidete Besucher trafen ein, den Heimkehrer zu begrüßen. Ich war überzeugt, wenn diese gesellschaftlichen Verpflichtungen vorbei wären, würde mein Bruder zu mir eilen und sich mir in die Arme werfen. Ich war im Fieber. Eine sechs Jahre alte Wunde öffnete sich plötzlich wieder und brannte wie am ersten Tag. Sie musste geheilt werden, diese blutende Wunde, seine Wunde an meine gedrückt werden, damit wieder ein Blut durch unsere Körper floss .
Eines Morgens sah ich ihn im Garten bei der Marienstatue. Er hatte einen Blumenstrauß in der Hand. Mit furchtsamer Neugierde schaute er zu meiner Hütte. Mein Herz schlug zum Zerreißen . Gelegentlich warf er einen Blick über die Schulter zum Familienanwesen . Dann tat er etwas Unglaubliches: Er legte den Strauß am Fuße der Figur nieder und fing an zu beten.
Als er sich wieder erhob, stand ich auf der Türschwelle. Ich hatte Amadeus noch nie so strahlend gesehen. Er war jetzt groß, genauso groß wie ich, und hatte seinen blonden Schopf nach hinten geworfen . Ich sah sein blasses Gesicht, seine langen Musikerfinger, seine breiten Schultern, seine mädchenhaft schlanke Taille. Warum kam er nicht zu mir? Mit einer Mischung aus Abscheu und Angst beäugte er meine Kleider. Ich schaute auf meine Schulter: Ligeïa war aus meiner Tasche gekrochen und hatte sich daraufgesetzt – Amadeus hatte doch wohl keine Angst vor einer Maus …! Mit ausgestreckten Armen ging ich auf ihn zu. Er wich zurück. Ich konnte es nicht glauben, er zitterte … Entschlossen ging ich zu ihm und packte ihn am Handgelenk. Sofort ging er stöhnend in die Knie. Mir war der Hals zugeschnürt, ich brachte kein Wort heraus. Was war los, warum begriff er nicht? Ich legte ihm die Hand auf den Kopf, er wehrte sich. Mit aller Gewalt versuchte ich, meine Lippen auf seine zu legen– Wunde an Wunde! –, er schüttelte den Kopf und schrie: »Nein! Nein!« Ich spürte einen heftigen Schlag im Nacken und fiel taumelnd auf die Knie. Das Gefängnistor stand neben mir. Ich schaute auf. Amadeus stürzte zum Haus, außer sich, heulend, stolpernd wie ein Betrunkener .
In diesem Augenblick begriff ich, dass ich immer nur ein wildes Tier bleiben würde, dass darin mein Schicksal bestand, und waren einmal bestimmte Grenzen – die entscheidenden Grenzen – überschritten, dann wurden alle anderen durchlässig wie ein Spinnennetz .
Ein paar Wochen später erschienen die ersten Mädchen. Sie kamen innerhalb von vierzehn Tagen zwei- bis dreimal, immer gegen Ende des Nachmittags, um bei Amadeus Musikunterricht zu nehmen . Warum ausschließlich Mädchen? Und was zwang meinen Bruder zu unterrichten? War die Familie etwa finanziell in Bedrängnis geraten? Ich wusste keine Antwort auf diese Fragen. Jedenfalls wurden alle nötigen Vorkehrungen getroffen, damit die Schülerinnen nichts von meiner Existenz erfuhren. Wenn sie da waren, durfte ich nicht einen Schritt in den Garten wagen. Ich beobachtete sie vom Fenster aus. Die Schäflein kamen in kleinen
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