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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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…«
    Remouald wurde rot. Er fand, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen wurden, aber schon der Vergleich verwirrte ihn.
    »Auch ich habe Ideen«, fuhr Wilson fort, der zu sich selbst zu sprechen schien. »Ich führe in jeder Tasche einen Abgrund spazieren. Ich habe immer einen Donnerschlag parat, den ich niedergehen lassen kann, auf wen ich will. Aber ich halte mich zurück. Ich weiß Dinge, die niemand weiß, die niemand wissen will. Was ist mit dir, willst du sie wissen? Bist du dazu bereit, sie zu hören?«
    »…«
    »Ich weiß sicher eine Menge Dinge, die ich dir beibringen könnte. Verstehst du? Eine Menge Dinge …«
    Die letzten Worte hatte er mit einer träumerischen Betonung voller geheimnisvoller Versprechen gesagt. Remouald nickte ernst. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass ihm jemand etwas sagte . Wilson gab ihm das Heft zurück. Mit dem Handrücken wischte er sich die Nase ab. Dann hob er wie ein strenger Richter den Zeigefinger. Remouald bemerkte, dass seine Fingernägel zum Teil bis zur Wurzel abgekaut waren. Mit Ausnahme des Nagels am kleinen Finger, der spitz wie ein Messer war.
    »Ich glaube, mein lieber Remouald, dass es unsere Bestimmung war, uns kennenzulernen.«
    »Ja.«
    »Vielleicht werden wir zusammen sogar große Dinge tun – wer weiß? Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen, was ich da sage. Alle nehmen immer alles auf die leichte Schulter.«
    »Das stimmt«, sagte Remouald.
    »Und meinst du nicht, dass die Welt eine Lektion über die Wahrheit gebrauchen könnte?«
    »…«
    Remouald drückte sich das Heft gegen die Brust. Er hatte Tränen in den Augen. »Eine Lektion über die Wahrheit«, wiederholte er. Der Lehrling nahm seine Mütze zurück.
    Aus seinem Kragen lugte ein leuchtender grauer Knopf. Remouald beugte sich vor, um zu sehen, was es war: eine Maus. Sie krabbelte heraus und setzte sich auf Wilsons Schulter. Er nahm sie und legte sie Remouald in die Hände. Dann zwinkerte er ihm zu.
    »Es gibt einen Trick, wenn du willst, dass sie ganz nah bei dir bleibt: Du musst ihr die Barthaare ausreißen, weißt du?«
    Remouald beobachtete das Tierchen. Es lief zwischen seinen Fingern hindurch, versuchte zu flüchten, kratzte in wilder Angst an seinen Handinnenflächen.
    Wilson streckte die Hand aus, kniff Remouald in die Wange – und war plötzlich wie versteinert. Seine Wimpern schlugen nicht mehr, seine Augen waren Fenster auf eine Wüste. Die Sekunden vergingen, ohne dass Remouald wusste, wie er sich verhalten sollte. Die Wange begann ihm weh zu tun.
    Als merkte er plötzlich, dass er einen brennenden Gegenstand berührte, kam Wilson wieder zu sich und zog rasch dieHand zurück. Auf Remoualds Wange blieben weiße Flecken zurück. Wilson sprach einfach weiter:
    »Wir zwei werden uns nicht miteinander langweilen, mein kleiner Remouald, das sag ich dir.«
    Er deutete auf die Maus, die sich um sich selbst drehte und laut fiepste:
    »Die ist immer so nervös, die Kleine. Als würde sie verzweifelt versuchen, jemanden vor etwas zu warnen. (Dann rollte er im Spaß mit seinen großen Augen:) Sapperlot! Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du derjenige bist, mein kleiner Remouald …?«
    Eine Träne floss Remouald über die Wange. Er erwiderte Wilsons Lächeln.
    * * *
    Wenn der Tag sich dem Ende neigte, machte sich Wilsons Unruhe bemerkbar. Er wurde jähzornig, war unhöflich zu den Kunden, und Séraphon kuschte.
    Nach seiner Zeitungsrunde kam Remouald ins Geschäft. Er hatte seine Bestellungen noch nicht ganz aufgesagt, als Wilson sich schon auf ihn stürzte, ihn sich wie einen Sack über die Schulter warf und mitnahm. Keiner der anderen Angestellten durfte mehr mit ihm reden. Der Lehrling trug den Jungen bis zur Anhöhe am Güterbahnhof. Bang und erregt beobachtete Séraphon sie vom Fenster aus. Wilson ging auf und ab, fuchtelte mit den Armen, und die Ideen sprühten Funken. Geblendet zupfte Remouald träumerisch an den Grasbüscheln. Sie redeten, bis es dunkel wurde. Dann folgte Remouald mit der düsteren Miene eines Soldaten, der einen ihm widerstrebenden Befehl auszuführen hat, Wilson zu seiner Hütte ...
    Remouald besuchte weiterhin Pfarrer Cadorette, Wilson wusste das. An diesen Abenden spazierte der Lehrling durch das Viertel, dessen Bewohner mittlerweile lieber die Straßenseite wechselten, als auf ihn zu treffen. Manchmal rief er Obszönitäten hinauf zur Klosterschule. Er wurde verdächtigt, im Pfarrhaus und in der Kirche Scheiben

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