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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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dazu, seine Entscheidung zu überdenken.
    Wenn nichts anderes zu tun war, als auf Séraphons Befehl zu warten, leistete Remouald den Arbeitern Gesellschaft. Er war immer voller Eifer, ihnen zu helfen und mit ihnen überseine Gedanken über Gott zu reden. Ideen waren für ihn keine graue Theorie; er spürte ihr Leben, ihre Wärme, ihre Regungen, wie bei einem kleinen Vogel, den man in den Händen hält. Denken hieß für ihn, von seinen Gedanken überwältigt zu sein. Er sprach mit den Arbeitern über Theologie, über metaphysische Fragen (die Wörter hatte ihm der Pfarrer beigebracht) und konnte sich nicht vorstellen, dass diese Dinge jemandem gleichgültig sein konnten. Vor den Angestellten dachte er laut. Manche von ihnen hielten für eine Weile inne, um ihm zuzuhören, dann kehrten sie mit einem kurzen, verdutzten Lachen wieder an die Arbeit zurück: »Muss schon sagen, da is was dran …!« Im Vorbeigehen strichen sie ihm über den Kopf. Sie gaben ihm den Spitznamen »das Doktorchen«.
    Bei Séraphon fanden Remoualds Überlegungen ein geneigtes Ohr. Zwar bereiteten ihm solcherlei Fragen keine schlaflosen Nächte, aber es gefiel ihm, im Kopf des Doktorchens Verwirrung zu stiften. Der war verblüfft, dass man auf so absonderliche Weise denken konnte, aber da es unmöglich war, dass die Großen ihn in die Irre leiten wollten, oder gar sich selbst, war er von Séraphons Scheinargumenten wie vor den Kopf gestoßen und begann plötzlich trübsinnig und von sich selbst enttäuscht an der eigenen Vernunft zu zweifeln.
    Das ging so weit, dass er nachts deswegen manchmal nicht schlafen konnte. Er schloss die Augen, zog sich die Decke über den Kopf und war von einem Schwindel gepackt, der den Schlaf und die Welt von ihm fernhielt. Er dachte: »Was, wenn es nie etwas gegeben hat, wenn überhaupt gar nichts jemals existiert hat?« Nicht einmal Gott, nicht einmal die Zeit, nicht einmal der Raum – nicht einmal nichts! Wie ein Hund, der an der Leine zerrt, kam sein Geist an eine Grenze, und ihm wurde die Luft abgeschnürt. In solchen Momenten war die Ideedes Nichts in ihm so gegenwärtig, so bedrückend und ließ ihn eine solche Leere spüren, dass er meinte, selbst nichts mehr zu sein, und das Universum und sogar Gott würden in einen Abgrund gezogen, außerstande, die Leere zu überwinden, und ohne Kraft, weiter zu existieren.
    Erschöpft stand er auf, als hätte er sich die ganze Nacht geprügelt.
    Remouald suchte nach jemandem, mit dem er reden konnte. Die nichtssagenden Antworten des Pfarrers, in denen keinerlei Notwendigkeit lag, konnte er schon erahnen, und sie bedrückten ihn im Voraus. Sein Vater verstand seine Sprache nicht, und ohne dass Remouald den Grund dafür kannte, bereiteten ihm manche Themen schlechte Laune. Séraphons Äußerungen wiederum waren zu obskur, seine Einstellung zu dubios, am Ende hinterließen sogar die Marmeladebrote, die er ihm schmierte, einen Nachgeschmack von Asche, Krankheit und Tod.
    Nachts wachte Remouald auf und stellte fest, dass er im Schlaf redete. Sein Gemurmel verstummte in atemloser Stille. Die allgegenwärtige Nacht beherrschte die ganze Welt. Sein Verlangen, zu hören und gehört zu werden, erschuf ihm im Traum eine Freundesgestalt, und er erwachte mit dem Gefühl, von seinem Begehren hinters Licht geführt worden zu sein. Er fühlte sich wie ein Geisterschiff, das von den Wellen in immer kältere Gewässer getragen wurde und sich während seines langsamen Abdriftens unerbittlich auf die Gletscher zubewegte.
    Er hungerte nach neuem Wissen. Er wusste nicht, wie er die Strenge der Vernunft, die ihn auf einem hohen Turm in dünner Luft gefangen hielt, wo es ihm an allem fehlte, inEinklang bringen sollte mit seinem Bedürfnis, zu lieben und mit den anderen zu kommunizieren. Ihm war klar, dass das Licht zwei wohltuende Wirkungen besaß: Wärme und Helligkeit. Aber ein seltsamer Fluch wollte, dass er der einen nicht treu sein konnte, ohne die andere zu hintergehen, und wenn er einmal beide Tugenden zusammenführte, verbrannte er sich, so als wollte er eine heiße Flamme in die Hand nehmen. Seine Gedanken entfernten ihn immer weiter von seiner Mutter, er war wie von einem Kometen fortgerissen, benommen, vor Kälte gelähmt, in der Fremde verloren; noch am Abend hielt ihn seine Mutter in den Armen, band ihn durch tausend wohlriechende, innige Bindungen wieder an die Erde, was ihn ein wenig beschämte und daran hinderte, zurück in die klare, reine Höhe mit ihrer dünnen Luft zu

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