Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
andere, Herr Pfarrer. Ich meine damit … wenn jemand etwas tun würde, wodurch er in die Hölle kommen würde … Angenommen, seine Eltern sind im Himmel … müssten sie dann nicht allein deswegen,weil er verdammt ist, in den ewigen Flammen … natürlich vorausgesetzt, dass sein Vater und seine Mutter ihn lieben ... also … könnten sie dann trotz allem glücklich sein? Können sie den Frieden des Paradieses genießen, obwohl sie wissen, dass er verdammt ist? Ich meine, wäre das Wissen über das Leid ihres Kindes für die Eltern nicht schlimmer, als selbst verdammt zu sein, auch wenn sie im Paradies wären?«
Cadorette schaute lange verdrossen in den Schnee, dann hinauf zu den Sternen, die mehr Platz boten. Er war versucht, diesem unglücklichen Kind zu sagen, dass es gar keine Hölle gab. Er stand auf und ging zu den Kreuzen hinüber. Alles war so ruhig hier. Cadorette las die Inschriften, die Lebensdaten, die Namen seiner Vorgänger aus den letzten fünfzig Jahren: Ihm gefiel der Gedanke, dass auch er eines Tages hier beigesetzt würde.
»Da ist so eine Leere in meinem Kopf, Herr Pfarrer, ein Loch, in das alle Gedanken, die darüber hinwegfliegen sollen, hineinfallen wie ein Stein, der sein Ziel nicht erreicht.«
Plötzlich fiel dem Pfarrer die Geschichte mit den Mumien wieder ein. Beim Besuch des Bischofs letzte Woche hatten sie sich über Remouald unterhalten, und der Bischof hatte zu ihm gesagt: »Erzählen Sie ihm von den Mumien.« Von den Mumien? »Ja, von den Mumien.«
»Hör mal, Remouald, ich möchte dir etwas sagen, etwas sehr Wichtiges. Danach kannst du, wenn du willst, also, wenn du das Bedürfnis verspürst, dich bei Gott für etwas zu entschuldigen, dann kannst du danach beichten. Was hältst du davon?«
Remouald ließ sich nichts anmerken.
»Gut, also. Du bist das intelligenteste Kind, das mir je begegnet ist, und noch erstaunlicher finde ich, dass du diroffenbar zumindest bis jetzt nichts darauf einbildest. Umso besser, meinen Glückwunsch. Aber du bist noch ein Kind. Also hör mir gut zu. Jemand hat mir einen Zeitungsartikel gezeigt, bei dem ich an dich gedacht habe. In diesem Artikel steht, dass es mumifizierte Leichen geben soll, die seit Tausenden von Jahren in einer Krypta ruhen. Sie liegen dort ganz unbeachtet, verstehst du, niemand weiß, dass sie dort ruhen, und die Zeit kann ihnen nichts anhaben. Sie haben, als sie gestorben sind, eine bestimmte Haltung eingenommen und sich seitdem um keinen Deut bewegt. Und aus welchem Grund, glaubst du, überdauern sie die Jahrhunderte mit solcher Leichtigkeit? Weil niemand sie beachtet, Remouald. Der größte Gefallen, den man ihnen tun konnte, war, sie zu vergessen. Denn wenn du die Tür zur Krypta öffnest, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, wirst du enttäuscht, du findest nichts: nur Staub, Krümel und etwas Rauch. Sie würden durch die Außenluft sofort zu Pulver zerfallen, verstehst du? Ein Luftzug, und dreitausend Jahre Reglosigkeit werden zu Staub.«
Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, damit Remouald die dreitausend Jahre auf sich wirken lassen konnte.
»Es gibt Dinge im menschlichen Geist, im Geheimnis unserer Seele, die wie diese Krypta sind, von der wir gerne wissen möchten, was sich in ihr verbirgt. Aber wenn wir es wagen, das Siegel zu brechen, aus Stolz oder aus unguter Neugierde, dann erreichen wir damit nur, dass das, was wir gesucht haben, zu Staub zerfällt. Und nachher wissen wir über das, was dort verborgen lag, nicht mehr. Was wir zerstört haben, wird uns fehlen, ohne dass wir wissen, was uns fehlt. Und du willst eben in deiner Neugierde alle Türen öffnen. Für mich ist die Welt schon ein wenig alt, aber für dich, Remouald, ist sie noch funkelnagelneu. Wenn du einmal in meinem Alter bist, wirstdu sehen, dass man alles für eine Welt tun würde, die man noch nicht überall mit seinen fettigen Fingern abgetastet hat. Aber was man mit dem Alter verliert, das gewinnt man an Ewigkeit. Achte darauf, nicht gleich alles zu verderben, was du vielleicht an Ewigkeit in dir trägst.«
Remouald schaute so bitter drein, dass der Pfarrer befürchten musste, in dem Jungen sei nicht mehr viel von einem Kind geblieben.
»Die Ewigkeit der Seele …? Aber wenn man schläft und dabei nicht träumt, was ist dann mit ihr, Herr Pfarrer? Es ist, als würde man nicht existieren. Ist es so nach dem Tod, nach dem Leben? Und was heißt dann, die Seele ist unsterblich, wenn ihr nicht einmal bewusst ist, dass sie weiterlebt? Wenn die
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