Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
eingeschlagen zu haben. Jemand behauptete, ihn gesehen zu haben, wie er sich mit Hunden raufte. Zurück im Laden, reagierte er seine Wut ab, indem er bis spät in die Nacht Holz hackte.
Séraphon seinerseits war wie ein Tier, das beim Herannahen eines Gewitters unruhig wird. Nachts träumte er wie seit seiner Jugend nicht mehr, und immer öfter verbrachte er lange Abende im Pferdestall. Er war nervös, was nicht in seiner Natur lag, und fragte sich in einem Anfall von Hypochondrie, ob er nicht vielleicht eine dieser schrecklichen Krankheiten ausbrütete, von denen man ihm als Kind erzählt hatte, die vom Unterleib ausgehend über das Blut in den Kopf steigen und einen am Ende in den Wahnsinn treiben ...
Nachdem er bereits zwei Stunden die Zimmerdecke angestarrt hatte, stieg Séraphon von seiner Schlaflosigkeit entmutigt mit sorgenvollem Kopf aus dem Bett. Der Tag war beschwerlich gewesen. Einer Kundin war es in den Sinn gekommen, Remouald im Vorbeigehen über die Wange zu streicheln:
»Weißt du, dass ich noch nie einen so hübschen Jungen wie dich gesehen habe? Weißt du das?«
Wilson hatte sie geohrfeigt. Séraphon dachte daran, wie er hatte buckeln müssen, damit sie bereit war, darüber hinwegzusehen und vor allem Stillschweigen über den Zwischenfall zu bewahren. Zum Glück hatte die Kundin Schulden bei ihm. Er zog sich aus der Affäre, indem er ihr die Schulden erließ.
Séraphon versuchte, seinen Mut zusammenzunehmen. So konnte es nicht weitergehen, er musste Wilson von der Kundschaft fernhalten. Trotzdem wusste er, dass er sich wieder nicht getrauen würde, ihm bei ihrem Gespräch ins Gesicht zu sehen, der Lehrling würde hämisch grinsen und Séraphon sich wieder trollen.
Er ging zum Dachfenster. Die ersten Wintertage waren gekommen. Es hatte geschneit, der Mondschein war herrlich ... Der Lehrling verließ das Gelände in Richtung Rue Moreau. Séraphon wartete eine Weile, dann trat auch er aus dem Haus: Endlich würde er das Ziel seiner nächtlichen Eskapaden erfahren.
Wilson überquerte die Straße und kletterte über den Zaun. Vorsichtig folgte Séraphon ihm. Der Lehrling ging in den Hof. Im Haus brannte kein einziges Licht. In allen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge vorgezogen, bis auf eines im zweiten Stock. Wilson zögerte. Er hatte den Mantel ausgezogen und in den Schnee gelegt. Er hauchte in die Hände, um sie aufzuwärmen, und schaute zum Fenster hinauf.
Plötzlich warf er sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Hauswand, den Kopf nach hinten geneigt, als wollte er sie küssen. Es verblüffte Séraphon, mit welcher Gewandtheit er die Fassade hinaufkletterte, so als würde sein Körper am Stein haften.
Séraphon hielt sich im Halbdunkel verborgen. Er unterdrückte sein Kichern, peinigend schüttelte es ihn. Wilson hing vor Remoualds Fenster, um ihm beim Schlafen zuzusehen.
Wie Glut schimmerte sein Gesicht in der Nacht.
* * *
Trübsinnig betrachtete Pfarrer Cadorette das Kind, das vor ihm lief. Remouald Bilboquain war dünn geworden und hatte Ringe unter den Augen. Schweigend trat er mechanisch nach Steinen, und für ein so wortgewandtes Kind kam Schweigen einem Geständnis gleich. Seit ein paar Wochen reagierte er nicht mehr, wenn man ihn ansprach, und murmelte allein vor sich hin, offenbar ohne es zu bemerken. Der Pfarrer konnte nur machtlos der Verwandlung zusehen, die ihm unerklärlich war.
Sie traten auf den Kapellhof und setzten sich auf die Bank bei den Kreuzen. Es war Abend geworden. Feiner Schnee war gefallen, der erste dieses Winters; jetzt klarte es auf, die Kälte war nicht unangenehm. Seit einer Stunde spürte der Pfarrer, wie Remouald herumdruckste, doch aus Angst, ihn vor den Kopf zu stoßen, wartete er lieber, bis dieser sich ihm von allein anvertraute. Remouald betrachtete die Kreuze. Ohne sich umzudrehen fragte er in dem unbeholfenen, gespielt gleichgültigen Tonfall, der verrät, welche Qualen das Kind leidet:
»Sind wir verantwortlich für das Heil der Menschen, die uns lieben, Herr Pfarrer?«
Für Cadorette waren Remoualds Fragen wie ausgeworfene Fischernetze: Man wusste nie, was sie am Ende einbrachten. Schließlich antwortete er:
»Ja, wenn du damit meinst, dass wir bemüht sein sollten, sie auf den rechten Weg zu führen. Nein, wenn du damit meinst, dass wir für die Sünden verantwortlich sind, die sie gegen unseren Willen begehen. Aber vielleicht verstehe ich auch nicht ganz, was du meinst …«
»Ich meine weder das eine noch das
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