Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Unsterblichkeit unserer Seele blind ist und taub und kalt wie dieser Stein?«
Er zeigte auf das Kreuz, an dem der Pfarrer lehnte. Cadorette drehte sich um die eigene Achse und setzte sich wieder auf die Bank. All diese Fragen waren so weitläufig, so schwierig; nur ein kleiner Junge in seiner Naivität konnte mit derartigem Eifer versuchen, es mit ihnen aufzunehmen. Der Pfarrer war bedrückt: Er fühlte sich der Sache nicht gewachsen. Remouald schaute weiter auf die Kreuze, wie ein Bergsteiger, der vom Gipfel aus die Weite der Welt betrachtet.
Unvermittelt wandte sich der Pfarrer zu ihm.
»Wer sagt denn, dass die Seele schläft? Die Seele schläft nie, Remouald, das ist ein Trugschluss. Sag, hast du nicht manchmal morgens, wenn du aufwachst, das Gefühl, dass du einen wichtigen Gedanken unterbrochen hast, dich aber an nichts erinnern kannst …? Du glaubst, du schläfst, Remouald, du glaubst, mit ganzer Seele zu schlafen, während sich deine Seele aber in Gott zurückgezogen hat und vielleicht Dinge hört,eine Sprache spricht, für die wir noch nicht bereit sind. Und Gott in Seiner Güte schenkt uns das Vergessen. Vergessen zu können ist eine Wohltat wie das Werk einer Fee, mein kleiner Remouald, eine Gnade, die Gott uns allmorgendlich gewährt. Was wir im Gedächtnis behalten, sind nur Bruchstücke, die wir für Träume halten. Aber nein, da gibt es kein Vertun, unsere Seele schläft nie.«
Cadorette schlug sich vor Überzeugung aufs Knie. Er war sich nicht sicher, ob er die Worte, die er soeben gesagt hatte, selbst wirklich ganz begriff, doch es bestätigte ihn in dem Gedanken, dass Jemand sie ihm eingeflüstert haben musste. Noch zwanzig Jahre später, als Remouald zu dem geworden war, der er hatte werden sollen, würde er sich seiner Worte erinnern, die eine unerwartete, schmerzvolle Bedeutung angenommen hatten, und jedes Mal wenn er den Dreißigjährigen sah, würde er sich die Sätze ins Gedächtnis rufen, die er dem Zwölfjährigen gesagt hatte.
Remouald zuckte die Schultern und zog die Nase hoch. Cadorette rückte zu ihm. Der Junge legte den Kopf an die Schulter des Pfarrers. Dieser streichelte ihm übers Haar.
»Du bist tatsächlich frei von Eitelkeit, mein Sohn. Aber in dir leuchtet ein Licht, das dich, ohne dass du es weißt, wie ein Dämon quält. Der Teufel triumphiert meistens dann, wenn man nicht mehr glaubt, dass es ihn gibt – vergiss das nie, wenn du betest. Du bist wie ein Kind, das seinen Drachen immer höher steigen lassen und immer mehr Leine haben will, weil es rennen möchte, als würde der Himmel es mit sich ziehen: Es rennt so lange, bis sein Drachen von Blitzen, Winden, der Höhe zerrissen niederstürzt.«
Ein Schaudern durchfuhr Remouald Bilboquain.
»Vergeben Sie mir, Herr Pfarrer, bitte vergeben Sie mir.«
»Gott allein vergibt, Remouald. Ihm musst du dich anvertrauen.«
Der Schnee, den der Wind vor sich hertrieb, sah im Mondlicht aus wie Glasstaub, der bisweilen diamanten leuchtete. Der Pfarrer genoss den versöhnlichen Moment. Der Himmel ruhte auf der Erde wie eine Wange auf einer Schulter, und an der seinen spürte er den warmen Druck eines Kinderkopfes. Remouald hatte still zu weinen begonnen. Sein Haar roch nach Rosinen. Der Pfarrer klappte ihm die Kapuze hoch, drückte ihn noch fester an sich und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Ja, nur heraus damit, mein Sohn, Weinen ist nie vergeudete Zeit.«
Lautes Atmen in den Büschen, und etwas Graues flog durch den Himmel auf die Kapelle zu: Ein Kirchenfenster zerbarst. Cadorette sprang auf.
»Heda! Du Vandale!«
Er lief bis zur nächsten Straßenecke einem Schatten hinterher, wollte ihm schon in die Querstraße folgen, musste aber stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Der Pfarrer kehrte in den Hof zurück. Das Kind war wie von Sinnen.
»Aber Remouald, was ist denn in dich gefahren?«
»Keine Lügen mehr, Herr Pfarrer. Und keine Märchen!«
Der Pfarrer versuchte ihn zurückzuhalten, aber der Junge riss sich los. Als er am Hofeingang war, drehte er sich um. Einen solchen Blick hatte Cadorette noch nie an ihm gesehen. Seine Seele stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Sie sagen immer, wie intelligent ich bin, Herr Pfarrer, aber was wissen Sie davon? Was wissen Sie davon? Die Leute haben doch keine Ahnung, wie schrecklich das ist, intelligent zu sein.«
»Remouald!«, rief der Pfarrer. »Remouald!«
Er sah nur noch die Umrisse des Kindes durch Nacht und Schnee rennen.
Der Pfarrer seufzte.
Er begab sich zur
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