Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
steigen, wo es ihm an allem fehlte, und wo sein Geist auf ihn wartete. Warum hatte alles eine linke, warme und ungeschickte Seite jenseits von Vernunft und Worten, und eine rechte, unerbittliche, eisige und gleißende, die einander aber nie begegneten?
Er träumte von einem geistigen Zwilling mit denselben Horizonten, den es wie ihn nach Liebe dürstete und der wie er entschlossen war, sich nichts zu verbieten. Die Finger in die Zaunmaschen gekrallt, mit dem Blick den Fluss hinter den Häusern unten am Ufer suchend, tat er in jeder Pause dasselbe wortlose Gebet, einen reinen, vom Gemurmel des Vormittags getragenen Ruf, der sich über die Schreie der ballspielenden Kameraden legte und mit dem Laub im Wind fortwehte. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel, und Remouald dachte an die Wolken, diese Wassermassen, die wie Schiffe im Azur hingen. Die ausgetrocknete Erde würde den Regen trinken, die Blätter der Bäume ein paar Tropfen für sich zurückbehalten, und genau das war es, was man tunmusste: vereinen, was unten und was oben war, Erde und Himmel. Das war es, wozu zwei sich liebende Geister fähig wären, die vom selben Wasser, von derselben Quelle über ihnen tranken und die wärmende Nahrung des Lichtes wie ein Brot teilten. Remouald hörte sein Herz klopfen. Er meinte zu spüren, dass das Glück nahe war, dass es ihn launenhaft umflatterte und er sich nur im richtigen Moment zur Seite drehen musste, um es zu erhaschen. Er würde noch lernen, dass die gefährlichsten Bitten verhängnisvollerweise erhört werden und dass ein Hase, der unschuldig durch den Schnee läuft, nie den schwebenden Schatten des Sperbers hinter sich sieht, der ihn verfolgt.
* * *
Remouald hatte nach Schulschluss die Zeitungen ausgetragen und schrieb, während er auf Séraphon wartete, seine Gedanken des Tages in sein Heft. Er saß hinter der Ladentheke. Vor ihm landete eine Hasenpfote. Er blickte auf.
Der junge Mann saß oben auf der Treppe. Er trug Séraphons Mütze, deren Schirm sein Gesicht verbarg. Remouald musterte erst ihn, dann die Hasenpfote. Er schwieg.
»Was schreibst du denn da?«
Remouald war sich nicht sicher, ob das eine Frage war oder eine abfällige Bemerkung. Er zuckte die Schultern.
»Das sind so Ideen.«
Der Junge fragte mit einer ungewöhnlichen Sanftheit, in der eine leichte Unruhe lag, die Remouald bald vertraut sein würde:
»Darf ich mal sehen?«
Er streckte die Hand aus. Remouald zögerte. Noch nie hatte er jemandem sein Heft gezeigt. Aber es hatte ihn auch nochnie jemand danach gefragt. Er stieg zu dem Jungen die Treppe hinauf. Der nahm die Mütze ab und setzte sie Remouald auf den Kopf. Er begann zu lesen.
»Das sind so Ideen«, wiederholte Remouald.
Wenn man seine schmale Stirn sah, seinen großen Mund, dessen Winkelfurchen sich zum Kinn hinunterzogen, seine riesigen Augen (der linke Ohrbügel seiner Brille war mit Klebeband am Gestell festgeklebt), dachte man zuerst an eine gewaltige rote Kröte. Seine Gesichtshaut war rissig. Sein Mantel, der ihn wie ein Schlauch umhüllte, ging ihm bis zu den Knöcheln. Von diesem Wesen ging ein eindringlicher, betörender Geruch von Erde und Pilzen aus, der Remouald an die alten Bücher des Pfarrers erinnerte. Seine fuchsroten Haare, die nach allen Seiten dicht in festen, dicken Strähnen wie Heubüschel abstanden, ließen ihn grotesk und beunruhigend aussehen, wie einen verwirrten Clown.
Als er ausgelesen hatte, starrte der Junge Remouald an. Seine Augen waren erstaunlich, von einem Grün, das Remouald noch nie bei jemandem gesehen hatte, sie schimmerten wie brennende Fliegen, und die Dicke der Gläser, von denen eines gesprungen war, betonte noch das Bestürzte, Verzweifelte in seinem Blick.
»Die Hasenpfote. Du kannst sie haben. Willst du?«
Remouald, der nicht gerade oft etwas geschenkt bekam, nahm verlegen an.
»Ich kann dir alles Mögliche besorgen, weißt du, und noch viel schönere Sachen. Ich weiß, wie man Tiere ausstopft.«
»Das ist bestimmt interessant.«
Der Junge nickte bedächtig.
»Ich heiße Wilson.«
»Wie, Wilson?«
»Wilson.«
»Ich bin Remouald. Remouald Bilboquain.«
»Ich weiß.«
Er klappte Remouald in einer ungeschickten, liebevollen Neckerei den Mützenschirm über die Augen. Remouald lachte schüchtern und schob ihn wieder hoch. Erneut trafen sich ihre Blicke.
Remouald hörte auf zu lachen.
»Du schreibst da Dinge … die sind nicht ohne. Aber du scheinst dich nicht besonders für Mädchen zu interessieren
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