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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Augen ihn sehen, was sie sahen.
    Ansonsten interessierte sie so gut wie gar nichts. Weder die Tiere, denen sie begegneten – Eichhörnchen, Pferde, nicht einmal kleine Hunde –, noch die Spielsachen in den Schaufenstern. Die Spiele der Kinder, die sich gegen Ende des Nachmittags auf der Straße trafen, waren ihr gleichgültig. Nie hatten sie ein bestimmtes Ziel, sie folgten einfach dem launenhaften Verlauf der Straßen. Sarah hielt nun nichtmehr Remoualds Hand. Sie schlug im Gehen einen sanften zerstreuten Rhythmus in ihre Fäustlinge, aus purem Vergnügen daran, die Hände zusammen und wieder auseinander zu führen, sie im Takt der vergehenden Zeit zu vereinen und zu trennen.
    Woher also das plötzliche Interesse für die Cornes Bleues ? Sie war auf die andere Straßenseite der Rue Sainte-Catherine gerannt und hatte sich an die Scheibe der Metzgerei gedrückt. Sie verdeckte die Augen vor dem Sonnenlicht, um besser hineinschauen zu können. Remouald folgte ihr. Sie wollte hineingehen, zog ihn mit beiden Händen am Ärmel. Schließlich gab Remouald nach.
    Fleischstücke, geschwollen, auf Hackbänken plattgeklopft, gewürfelt oder in Scheiben, hinter Glas geschützt, ein Museum der Wunden und Schmerzen; vor jedem einzelnen blieb Sarah feierlich stehen wie in einer Ausstellung. Das geköpfte Geflügel hing in Sängerpose rosa gerupft an Haken entlang der Wand. Der Metzger schnitt gerade Koteletts. Hinter der Wand hörte man das Gegacker der Hühner, das Kratzen der Krallen an den Gitterstäben. Von der Decke hingen Schinken und Würste. Remouald zog den Wollschal hoch. Schon beim Hereinkommen hatte ihm ein fader Geruch von Körnern, Sägespänen und Blut den Hals zugeschnürt.
    Der Metzger wischte sich die Hände an der Schürze ab und wandte sich ihnen zu. Ziemlich kurze Beine, wuchtige Schultern, breites Kinn. Remouald fragte sich, wem er ähnlich sah. Er wusste nicht, dass es Siméon Cadorette, der jüngste Bruder des Pfarrers, war.
    »Was kann ich für Sie tun?«
    »Sarah wollte hier rein.«
    Siméon besah sich die Kleine. Er hatte ein seltsamrasselndes Lachen, seine Bronchien pfiffen, als würde ein Brett zersägt.
    »Du hast Hunger, was?«
    »Sie war gerade zu Tisch, Herr Metzgermeister.«
    Sarah lächelte nur.
    »Was ist los? Hast du deine Zunge verschluckt …?«
    Während Remouald dem Metzger erklärte, dass sie stumm war, schlüpfte Sarah am Tresen vorbei in den Hinterraum. Sie hüpfte und klatschte in die Hände. Remouald wollte sie zurückhalten.
    »Nein, lassen Sie nur. Sie interessiert sich sicher für die Tiere in den Käfigen.«
    Sie gingen hinter ihr her.
    Die Hühner flüchteten kreischend in den Hof – ein Hahn drückte sich mit aufgestelltem Sporn gegen eine Mauer. Überall flogen Federn, als wären Kissen aufgeschlitzt worden. Sarah ging zu den Käfigen; die Kaninchen, die flach auf dem Bauch lagen, die Schnauze zwischen den Pfoten, die Augen rot vor Müdigkeit, schienen sich damit abgefunden zu haben, ihre Existenz in Senfkruste und mit einer Kartoffel im Maul auf dem Teller zu beenden. Sarah kratzte am Gitter und schnitt den Tieren Grimassen. Dann schlug sie mit den Fäusten auf die Käfige ein.
    »He, Kleine, was machst du da?«
    Sarah hängte sich mit aller Kraft an einen Kaninchenstall, so dass er zu Boden fiel. Sie ging zu den anderen und rammte mit der Schulter dagegen. Die Gerüste stürzten ein. Sie lief hinter den Hühnern her und trat ihnen ins Hinterteil, eines packte sie an den Beinen und schüttelte es wie eine Glocke.
    Fluchend versuchte der Metzger die Käfige wieder aufzustellen. Ein paar Kaninchen entkamen. Remouald wollte ihmhelfen, zertrat aber in seiner Aufregung nur einem Kaninchen die Schnauze: sternförmig spritzte das Blut unter seinem Absatz hervor. Beinahe wäre er in Ohnmacht gefallen.
    Sarah schlüpfte zurück in den Laden und schnappte sich ein Kalbsschnitzel. Sie kletterte auf den Tresen und peitschte damit eifrig gegen die Schinken.
    »Das ist nicht nett, Sarah! Los, komm da runter! Hörst du?«
    Der Metzger kam fuchsteufelswild in den Laden zurück.
    »Was ist denn das für ein Satansbraten!«
    Er schickte sich an, sie eigenhändig von ihrer Tribüne zu pflücken: Sarah hängte sich an einen Schinken und umklammerte ihn mit den Beinen. Mit herausgestreckter Zunge schaukelte sie über ihren Köpfen.
    »Tun Sie was oder ich rufe die Polizei!«
    Remouald wandte sich an das Mädchen:
    »Wenn du runterkommst, kaufe ich dir Bonbons!«
    Neckisch erwiderten ihre

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