Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Finger ins Ohr. Er sah Remouald, blieb stehen und breitete leidvoll dreinblickend die Arme aus.
»Wenn Sie bitte in mein Büro kommen möchten, mein lieber Freund, ich muss Ihnen etwas ziemlich Unangenehmes mitteilen.«
Remouald folgte ihm.
Der Direktor nahm nicht an seinem Schreibtisch Platz. Es war ihm vom Treffen mit dem Fabrikbesitzer noch ein Hauch Unterwürfigkeit geblieben, und so trat er seinem Angestellten direkt gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, wie zwei echte Männer.
»Ich habe heute Nachmittag eine schlimme Nachricht erhalten. Ach, mein kleiner Remouald, wenn man einmal auf die schiefe Bahn geraten ist …!«
Remouald verteidigte sich.
»Ich habe nichts getan. Ich habe nur gesagt, er soll mir meinen Schal wiedergeben, und ihm seinen zurückgegeben.«
Monsieur Judith, der sich angeschickt hatte, seinen Sorgen Luft zu machen, brach ab und versuchte, sich auf das eben Gehörte einen Reim zu machen. Schließlich fragte er:
»Was ist das jetzt wieder für eine Geschichte mit dem Schal?«
»Der Schuldirektor. Und das Fräulein Lehrerin.«
Judith hob gereizt die Hand.
»Die Sache ist doch längst vergessen, darum geht es jetzt nicht. Es geht um Sarah.«
»Ach so?«
»Ihre Mutter.«
»Ja?«
»Sie kommt nicht über’n Berg.«
Er schwieg, wie es sich geziemte. Remouald Tremblay übertraf sich wieder einmal selbst.
»Wollen Sie damit sagen, sie stirbt?«
Nein, ich will damit sagen, dass sie Banjo spielt, dachte der Direktor.
»Die Ärzte befürchten, dass sie diese Woche nicht überleben wird.«
Remouald versuchte, Mitleid mit Sarah zu empfinden. Aber ein unangenehmer Verdacht, den er nicht unter Kontrolle hatte, hielt ihn davon ab. Die ganze Woche schon konnte er, wie ihm jetzt bewusst wurde, nicht glauben, dass es Sarahs Mutter wirklich gab.
Er hörte nicht mehr, was der unablässig redende Direktor von sich gab. Plötzlich faltete Judith in flehentlicher Haltung die Hände:
»Mein Gott, lass sie nicht sterben, bevor sie noch einmal ihr Kind gesehen hat!«
Nachdem er sich so an seinen Schöpfer gewandt hatte, stieg Monsieur Judith wieder besonnen auf die Erde hinab, als würde er eine Treppe hinuntergehen.
»Sarah fährt weg?«, fragte Remouald.
»Es muss wohl sein. Und genau da liegt mein Problem. Remouald, Sie können sich vorstellen, dass ich es als meine Pflicht ansehen würde, sie persönlich zu begleiten, wenn nicht gerade morgen eine Versammlung von allerhöchster Wichtigkeit anstünde mit Leuten wie Monsieur Hudon, Richter Lacroix, Monsieur Costade … (Er legte Remouald die Hand aufs Knie.) Und deswegen fahren Sie mit.«
»Wohin?«
Jetzt schön eine Sache nach der anderen, dachte Judith seufzend.
»Sie besuchen mit Sarah ihre sterbende Mutter.«
»Wo?«
»Im Sanatorium.«
»Und wo?«
»In Saint-Aldor.«
»Wo?«
»Im Sanatorium von Saint-Aldor … Sie werden verstehen, es wird schwer sein für Sarah, ihre Mutter zu sehen: Sie braucht jemanden an ihrer Seite, dem sie vertraut. Aber Remouald, was haben Sie denn, Sie zittern ja! Ist es so schrecklich, worum ich Sie bitte?«
»Sie … Sie verlangen da etwas Unmögliches.«
»Hören Sie, wir fangen jetzt aber nicht noch mal an wie letzte Woche! Es gibt sonst niemanden, Remouald. Eine Mutter liegt im Sterben, und Sie wollen ihr verweigern, ihr Kind zu sehen? Würden Sie mir bitte verraten, was Ihnen derart zusetzt? Meine Güte, Sie sehen ja aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen.«
Der Direktor stand auf, verließ das Büro und kam mit einem Glas Wasser zurück.
Remouald trank achtlos einen Schluck, aus einem Reflexvon Gehorsamkeit. Er rang nach Luft und schob das Glas weit von sich.
»Ich kann nicht, ich will nicht, ich habe noch nie die Gemeinde verlassen, ich kenne mich da draußen nicht aus, ich werde mich verlaufen!«
Er presste die Arme auf den Bauch, als hätte er Magenkrämpfe. Der Direktor verlor die Geduld.
»Zum Teufel, hören Sie auf zu jammern! Ich habe schon alles vorbereitet. Sie kriegen den Weg genau erklärt, wenn Sie aus dem Zug gestiegen sind, ist es kinderleicht. Also bitte …! Nun wird’s mir wirklich zu bunt!«
Judith atmete tief ein, wie sein Arzt es ihm beigebracht hatte, und zählte im Kopf langsam und gewissenhaft bis zehn. Als er die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich versöhnlicher. Die Tugend der Zahlen.
»Es fehlt Ihnen an Selbstvertrauen, Remouald. Sie verlassen nie Ihre Gemeinde, sagen Sie? Na, um so besser! Die Erfahrung wird Sie reicher machen.«
Remouald saß in
Weitere Kostenlose Bücher