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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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dabei war, zu Eis zu erstarren.
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Mit Ihnen sprechen«, sagte Remouald. Er wirkte so jämmerlich, dass Gandons Wut mit einem Mal verflog.
    »Was haben Sie auf dem Herzen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Der Direktor betrachtete ihn spöttisch. Remouald schnäuzte sich in den Ärmel. Er lächelte wie ein vollgestopfter Esel. War er betrunken oder was? Er wartete, ohne etwas zu sagen.
    »Waren Sie schon immer so, oder haben Sie das irgendwo gelernt …? Was wollen Sie von mir?«
    »Ihnen etwas sagen«, sagte Remouald.
    »Ja, was denn?«
    »Dass ich geheilt bin.«
    »Das freut mich sehr. Geheilt wovon?«
    »Schon seit Jahren. Sagen Sie das Ihrer Freundin, der Lehrerin. Damit sie nicht mehr denken muss, was sie mir gestern sagen wollte, als sie vor der Bank gegen die Scheibe geklopft hat.«
    »Was wollte sie denn sagen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Also wirklich, meinen Glückwunsch.«
    »Sie hatte keine Zeit, es mir zu sagen. Und Sie auch, bitte denken Sie nicht so, auch wenn Sie heute morgen bei Monsieur Judith waren, um mit ihm zu sprechen.«
    »Was Sie da sagen, ist nicht gerade sehr verständlich, ist Ihnen das klar?«
    Gandon begann an der geistigen Gesundheit seines Gesprächspartners zu zweifeln. Remouald rang die Hände und trat von einem Bein aufs andere, um sich aufzuwärmen.
    »Ich wollte Ihnen auch ein Geheimnis verraten, über Ihre Freundin, die Lehrerin.«
    »Ach ja? Und was?«
    »Ich weiß nicht mehr.«
    Gandon hörte auf, sich zu wundern. Er nahm es mit Gelassenheit. Sein Gegenüber fügte hinzu:
    »Ich meine, ich weiß nicht mehr, ob ich es Ihnen sagen möchte.«
    »Sie sind wirklich bezaubernd, wissen Sie das? Sie sollten bei den nächsten Wahlen antreten.«
    Der Bruder setzte sich in Bewegung. Remouald folgte ihm. Er hielt ein wenig Abstand und trommelte sich gegen die Kälte auf die Oberarme.
    »Ich komme nächste Woche, um es Ihnen zu sagen, das Geheimnis, heute Abend kann ich nämlich nicht. Ich kann nicht, weil ich keine Lust habe, es zu erzählen. Aber jetzt will ich Ihnen noch etwas anderes sagen.«
    Der Bruder blieb ungeduldig stehen. Remouald blieb ebenfalls stehen, um den Abstand zu wahren.
    »Mein Wollschal«, sagte er.
    »Was ist mit Ihrem Wollschal?«
    »Sie haben ihn um.«
    »Was?«
    Remouald wiederholte, was er gesagt hatte. Gandon nahm den Schal ab und betrachtete ihn im Mondschein. Tatsächlich, der gehörte nicht ihm.
    »Heute morgen in der Bank. Sie haben meinen Schal mitgenommen, ohne es zu merken.«
    Er zog den Schal des Direktors aus der Tasche.
    »Gütiger Himmel, Sie haben Recht. Bitte entschuldigen Sie. Aber Sie hätten doch so lange meinen tragen können! Sie frieren doch!«
    »Aber das war ja nicht meiner«, sagte Remouald mit seinem Eselslächeln.
    Er machte eine Verbeugung und verschwand. Gandon band sich seinen Schal um. Im Stoff hatte sich etwas verfangen. Erschaute es an: eine Hasenpfote. Sie glitt ihm aus den Händen.
    Er suchte nach ihr, um sein Gewissen zu beruhigen, konnte sie aber in den Schneemassen nicht finden. »Egal«, sagte er sich. Seine Sorgen hatten ihn wieder gefangen genommen. Der Hausmeister. Die Gerüchte. Mademoiselle Clément.
    »Woher soll ich die Kraft nehmen, ihr morgen gegenüberzutreten?«
    Der Direktor beschleunigte den Schritt. Verzweifelt rief er sich das Bild des Gekreuzigten ins Gedächtnis. Jemandem nicht verzeihen zu können war ihm unerträglich.
    Aber am nächsten Tag erschien Clémentine nicht in der Schule. Auch nicht am übernächsten. Und selbst am dritten Tage nicht.

E r hatte sie überall gesucht.
    Unter dem Bett, unter den Möbeln, in allen erdenklichen Taschen seiner Kleider, in seinen Halbstiefeln, in der Brotdose, selbst an Orten, wo sie unmöglich sein konnte … Er versuchte sich zu erinnern, wann er sie das letzte Mal in der Hand gehabt hatte. Sicher noch am Tag zuvor. Aber wo? Hatte er sie im Büro des Direktors noch gehabt? Er erinnerte sich, dass er sie beim Anblick der Lehrerin fest gedrückt hatte. Aber hatte er sie auch noch gehabt, als er draußen auf den Direktor wartete …? Er sah auf die Uhr. Es war nicht einmal sieben Uhr. Er ging, ohne seinen Morgentee zu trinken oder dem noch schlafenden Séraphon Bescheid zu sagen.
    In der Nacht hatte es zeitweise geschneit, man musste sich die Augen aus dem Leib gucken, um eine Hasenpfote aufzustöbern. Ihm drehte sich der Kopf vom Alkohol des Vorabends. Gebückt lief er umher und suchte den Boden ab. So gelangte er zur École Langevin. Er

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