Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
unter die ich »Haus der Schwüre, Rue Moreau Nº 1909« schrieb – das ist jetzt fünfzig Jahre her!), im Haus unserer Kindheit, als ich ganz dein war, du ganz mein und der Himmel am rechten Platz! Dort will ich dich wiedersehen, schon bald – ich dachte an den 22. Dezember, deinen Geburtstag! Du kommst doch, nicht wahr? Ich werde alt und runzelig sein, denn ich bin in die Jahre gekommen, und vielleicht wirst auch du alt und runzelig sein, aber es werde ich sein, es werden wir sein: Falls du nicht kommst, weiß ich nicht, was ich tue – vielleicht hänge ich mich auf (würdest du das wollen?) oder schneide mir die Kehle durch – nachdem ich dieses verfluchte Haus niedergebrannt habe … Denn mein Leben wird sinnlos gewesen sein, wenn es nicht diese letzte Versöhnung mit dir gibt. Es wird sinnlos gewesen sein, sollte sich herausstellen, dass unsere Liebe nur eine Lüge war. Verstehst du, was ich damit sagen will? Ich ertrage es nicht mehr, mich zu erinnern .
Aber ich weiß, dass du kommen wirst. Und vergiss nicht: am 22 . Dezember .
Auf ewig dein
Rogatien
Wie im Traum zerknüllte Justine mit der behandschuhten Hand den Brief zu einer Kugel. Remouald, der erbleicht war, schaute ihr noch immer über die Schulter. Als sie es bemerkte, verbarg sie das Bündel Briefe in der Manteltasche.
Mit besorgter Miene passierte sie die Kasse. Remouald sah ihr nach, bis sie die Straße überquert hatte und hinter einer Gartenmauer verschwunden war. Er blieb am Ausgang stehen.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte der Platzanweiser, »aber wir schließen jetzt.«
Sarah hatte sich in eine gestopfte Puppe verwandelt. Remouald versuchte, ihr den Mantel überzuziehen, aber sie machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. Sie hatte träge die Lider geschlossen und hielt sich schwankend auf den Beinen. Er nahm einen ihrer Handschuhe und warf ihn augenblicklich angeekelt fort.
»Werfen Sie nicht Ihren Müll auf den Boden!«, sagte der Platzanweiser.
Remouald hob den Handschuh wieder auf und schüttelte auf der Straße das Schnitzel heraus, das Sarah darin verstaut hatte.
Immer noch zitternd machte er kehrt. Sarah hatte sich auf den Boden fallen gelassen, er hob sie auf den Arm. Es war vier Uhr. Zeit, Monsieur Judith seine Nichte zurückzubringen ...
Die Klavierspielerin war die Rue d’Orléans nach Norden hinaufgegangen, und sie taten es ihr nach. Remouald gingschnell, denn er hörte Pferdehufe hinter sich. Sarah wurde mit jedem Schritt schwerer.
»Meinst du, du kannst laufen?«
Sie bejahte, und er setzte sie ab. Der Reiter hatte sie überholt und versperrte ihnen den Weg. Das war das vierte Mal in weniger als einer Woche, dass er ihn seine Gegenwart spüren ließ und dann ohne ein Wort wieder verschwand. Remouald drehte um, aber der Reiter rief ihm mit heiserer Stimme nach.
»Wart’ nur ab, du Lüstling! Wenn ich will, mach ich dich platt wie einen Haufen Scheiße. Klar?«
Remouald hatte Sarahs Hand genommen. Sarah schaute im Gehen über ihre Schulter zum Pferd.
»Wenn die Polizei rauskriegt, dass die Geschichten mit den kleinen Jungen wahr sind, dann kommst du mir besser nicht in die Finger, du Dreckskerl … He! Sieh mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede!«
Remouald drehte sich um. Von oben herab zeigte ihm der Feuerwehrhauptmann grinsend die Zähne. Und er hielt ihm mit abgespreiztem Daumen den Zeigefinger wie einen Revolver vors Gesicht.
* * *
Remouald wartete, bis Monsieur Judith mit seinem letzten Kunden fertig war. Sarah hockte wie eine Ente neben ihm und vergnügte sich damit, seine Finger zu spreizen, zu verdrehen, ihn mit der Spitze einer Haarsträhne auf der Handinnenfläche zu kitzeln.
Monsieur Judith verließ das Büro im Gefolge von Charles Hudon, einem der Spinnereibesitzer. Ein kleiner spröder Mann von überspitzter Empfindlichkeit, der im Ruf stand, sich mitHunden und Pferden zu unterhalten und ihnen sonderbare Namen zu geben, und doch war und blieb er, wer er war: der Bruder seiner Brüder und der Sohn seines Vaters. Eine eingebildete Fliege schwirrte um seine Nase und setzte ihm zu, weshalb er bisweilen unvermittelt stehenblieb und Monsieur Judith, der ihm in übertriebener Hoffärtigkeit an den Fersen klebte, aufpassen musste, nicht in ihn hineinzurennen.
»Wir sehen uns dann morgen, nicht wahr, mit Ihren Brüdern … Und grüßen Sie mir Madame Hudon!«
Der Geschäftsmann winkte kurz zum Abschied, vielleicht um die Fliege zu vertreiben, und Monsieur Judith steckte sich wieder den kleinen
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