Die Unbekannten: Roman (German Edition)
nicht, sondern heuchelte Teilnahmslosigkeit, um seine Würde zu wahren.
Der CD-Player auf einer nahen Arbeitsfläche sorgte für Musik. Grady hatte keinen Fernseher und wollte auch keinen. Obwohl er Stille gewöhnlich sogar den elegantesten Geräuschen vorzog, füllten Merlins Gegenwart und Bücher seine Freizeit ab und zu nicht genügend aus.
Im Moment gaben ihm Bücher kaum etwas von dem, wonach er suchte, wohingegen Beethovens Opus 27 Nr. 2 – die Mondscheinsonate – sowohl Balsam als auch Inspiration für ihn waren.
Nachdem er seine Sammlung von illustrierten Nachschlagewerken ausgeschöpft hatte, nahm er sich beim Essen Berichte über die Berge von Colorado vor und blätterte in Memoiren von Leuten, die ihr Leben in diesem Winkel der Erde verbracht hatten. Er überflog die Seiten auf der Suche nach Verweisen auf unbekannte Tiere und nach seltsamen Geschichten über Geschöpfe mit weißem Fell, die verspielt, aber scheu waren.
Er hatte bereits den Verdacht, die Bücher würden ihm nicht helfen, doch er durchsuchte sie trotzdem. Die Begegnung
auf der Wiese hatte ihm nicht nur aus Gründen, die er verstehen konnte, gewaltig zugesetzt, sondern auch aus anderen, die er nicht wirklich zu fassen vermochte. An diesen Geschöpfen war ihm mehr unter die Haut gegangen als ihre Einmaligkeit und ihre geheimnisvolle Natur – irgendeine Eigenschaft, von der er ahnte, dass sie sie besaßen, die jedoch zu unklar geblieben war, um sie zu benennen.
Merlin sprang so abrupt auf, dass er mit dem Kopf von unten gegen den Tisch stieß. Dem Wolfshund drohte keine Gehirnerschütterung. Bevor der Hund Schaden nahm, würde eher der Tisch zusammenbrechen.
Als Merlin aus der Küche in den Flur tappte, der zum Wohnzimmer führte, legte Grady seine Gabel hin, ließ sein Buch zuklappen, saß nur da und lauschte auf ein Bellen. Als er nach einer halben Minute weder ein Bellen noch das Tappen der Pfoten des zurückkehrenden Wolfshundes hörte, schlug er das Buch wieder auf.
Kaum hatte Grady seine Gabel wieder ergriffen, da kam Merlin durch den Flur zur Küchentür getappt und blieb dort in wachsamer Haltung stehen. Sein leicht zu deutender Gesichtsausdruck besagte: Wir haben ein Problem, Dad. Was muss ich tun, damit du es begreifst – die Morsezeichen lernen und mit meiner Rute eine Nachricht klopfen?
»Schon gut, in Ordnung«, sagte Grady und stand von dem Stuhl am Küchentisch auf.
Der Hund eilte wieder in den vorderen Teil des Hauses. Grady fand ihn in der offenen Diele, die vom Wohnzimmer abging, mit dem Rücken zur Haustür, den Blick auf die Treppe zum ersten Stock gerichtet, die Ohren gespitzt.
In den Zimmern über ihnen war es so still, wie es sein sollte, so still, wie es dort immer war, wenn ein Mann mit einem Hund, der selten von seiner Seite wich, allein in einem Haus lebte.
Dennoch raste Merlin plötzlich die Treppe hinauf und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Er verschwand in dem Flur im ersten Stockwerk, bevor sein Herr hinter ihm die ersten drei Stufen hochgestiegen war.
Im oberen Flur schaltete Grady die Deckenlampe an. Hinter einer halboffenen Tür fand er den Hund in der Dunkelheit des größten Schlafzimmers. Der Wolfshund stand an einem Fenster, von dem aus man auf das Dach der Veranda vor dem Haus blickte, und seine Aufmerksamkeit war auf etwas gerichtet, das sich jenseits der Glasscheibe befand.
Grady ließ die Lampen ausgeschaltet. Mit seinem fahlen Licht beschien der Mond die weiße Rinde der Birke, deren weit verzweigte Krone über das Haus ragte, und versilberte das Herbstlaub, das im Sonnenschein wie Goldmünzen glänzen würde.
Als Grady auf Merlin zuging und bevor er nah genug an der Fensterscheibe war, hörte man vom Dach der Veranda immer schneller werdendes Getrappel. Dem Klang nach zu urteilen etliche flinke Füße.
Obwohl Merlin groß genug war, um durch die unteren Scheiben hinauszuschauen, legte er seine Vorderpfoten auf die Fensterbank und schob sich hoch, um eine bessere Sicht zu haben.
Als Grady endlich neben dem Wolfshund, der sich am Fenster breitgemacht hatte, Platz fand und seine Stirn an
die kühle Scheibe presste, verstummten die Geräusche. Was auch immer auf dem Vordach herumgehüpft war, bewegte sich jetzt in vertikaler Richtung.
In der windstillen Nachtluft wurden die unteren Zweige der filigranen Birke anfangs heftig geschüttelt, dann zitterten sie nur noch, als sich die Haupterschütterung in höhere Bereiche verlagerte. Während etwas an ihm hinaufkletterte, öffnete
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