Die Unbekannten: Roman (German Edition)
der Baum sein herbstliches Portemonnaie und trennte sich großzügig von einer Fülle von Blättern.
Grady öffnete die Verriegelung des Fensters, doch bevor er die untere Scheibe hochschieben konnte, sprangen die Kletterer vom Baum aufs Hausdach: Erst war ein dumpfer Aufprall zu vernehmen und gleich darauf noch einer. Nach ihren Geräuschen zu urteilen, schienen sie verschiedene Wege auszukundschaften, die an dem abschüssigen Schiefer hinauf zum Dachfirst führten.
Merlins Pfoten lagen noch auf der Fensterbank, als er den Kopf zurückneigte, um die Decke anzustarren.
»Vielleicht Waschbären«, sagte Grady.
Mit einem abfälligen Schnauben nahm der Wolfshund seine Pfoten von der Fensterbank, drehte sich zum Schlafzimmer um und legte den Kopf schief, um zu lauschen.
Der Schlafzimmerkamin befand sich direkt über dem offenen Kamin im Wohnzimmer. Ein metallisches Klappern und Quietschen hallte durch den gemeinsamen Abzug und lockte Merlin zu der Feuerstelle.
Etwas auf dem Dach versuchte sich an der kupfernen Abdeckhaube auf dem Kamin, die dazu diente, keine Funken herauszulassen. Da er sie selbst installiert hatte, wusste Grady, dass man sie nicht leicht entfernen konnte.
Derzeit brannte kein Feuer, und daher war der Kaminschieber zwischen dem Rauchschacht und der Brennkammer zugeschoben. Wenn etwas in den Abzug gelangte, kam es nicht durch die Platte des Kaminschiebers und hatte folglich keinen Zugang zum Schlafzimmer.
Die Dachbesteiger verloren das Interesse an der Kaminabdeckhaube und huschten an der Westseite hinunter.
Als sich die Geräusche zur Rückseite des Hauses entfernten und leiser wurden, rannte Merlin aus dem Schlafzimmer. Grady erreichte den oberen Treppenabsatz in dem Moment, als der Wolfshund schon unten ankam.
Während er die Stufen hinunterlief, fragte er sich, ob er die Hintertür abgeschlossen hatte, nachdem sie von dem spätnachmittäglichen Spaziergang zurückgekommen waren. Und als Nächstes fragte er sich, warum er sich darüber Sorgen machte.
Er konnte nicht leugnen, dass ihn, wenn auch nicht Furcht, so doch eine gewisse Unruhe erfasste, als er Merlin im Erdgeschoss suchte und ihn schließlich in der Küche fand. Der Hund stand an der Tür. Er wollte hinaus.
Grady zögerte.
9
Die Kartoffeln waren in einer begehbaren Kammer innerhalb des fensterlosen Kellers eingelagert, hinter einer robusten Eichentür mit eisernen Beschlägen, als seien sie ein Schatz, der es wert war, gehütet zu werden.
Tiefe Regale säumten den kleinen Raum. Auf den Regalen standen viele gut durchlüftete Körbe. Jeder enthielt drei Lagen Kartoffeln.
Auf den höchsten Regalen standen nur wenige Körbe. Henry Rouvroy stieg auf einen Hocker und verstaute die beiden Koffer voller Bargeld auf einem der obersten Regale, flach auf der Seite liegend und an die Wand gerückt.
Nachdem er von dem Hocker geklettert war, konnte er das wertvolle Gepäck dort oben nicht mehr sehen. Er kehrte in die Küche zurück. In ein oder zwei Tagen würde er ein anderes, besser geeignetes Versteck für das Geld finden.
Da er sich nichts aus Kartoffeln machte, würde er diese Stärkelieferanten wegwerfen und die Regale herausreißen. Wenn man ihn entsprechend umgestaltete, würde der Kartoffelkeller ein ausgezeichneter Ort sein, um dort eine Frau zu halten, wenn er es an der Zeit fände, sich eine zuzulegen.
In Jims und Noras Schlafzimmer wählte er aus Jims spärlicher Garderobe Unterwäsche, Socken, Jeans, ein Flanellhemd und Arbeitsstiefel. Henry war zwar weniger
muskulös als sein hart arbeitender Zwillingsbruder, doch alles passte ihm.
Das Hemd war von Walmart, nicht von L.L. Bean. Die Jeans war so geschnitten, wie man es zum Arbeiten und zum Reiten brauchte, nicht für einen Sonntag im Park. Die Stiefel waren absolut stillos. Die Verkleidung war perfekt, aber einen Moment lang fühlte er sich vertrieben, von dem Platz heruntergestoßen, der ihm von Rechts wegen zustand.
Er ließ sein Schulterhalfter und die Pistole gemeinsam mit einem Ersatzmagazin auf dem Bett liegen, wickelte seine kostspieligen Kleidungsstücke und seine Schuhe in das Hemd, das er getragen hatte, und knotete alles mit den Hemdsärmeln zusammen. Diese Sachen würde er gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Schwägerin begraben.
Henry stellte sich vor einem freistehenden Spiegel in Pose und richtete das Wort an sein Spiegelbild: »Sieh dich nur an, Jim – du bist von den Toten zurückgekehrt.«
Zumindest in seinen eigenen Ohren klang er wie sein
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